Mit vornehmer Zurückhaltung hielt sich Stefanos Tsitsipas nach dem größten Triumph seiner noch immer jungen Tennis-Karriere gar nicht erst auf. "Ich glaube, ich bin nah dran, zu einem Grand-Slam-Champion gekrönt zu werden", tönte der Grieche, kurz nachdem er in London das prestigeträchtige Saisonfinale der ATP gewonnen hatte. Zwar sei er sich bewusst, dass das "große Worte" sind, "aber ich bin davon überzeugt, dass ich da hingehöre".
Das Selbstvertrauen des 21-Jährigen ist spätestens nach seinem ersten großen Titel unerschütterlich. Sein hart erkämpfter 6:7 (6:8), 6:2, 7:6 (7:4)-Erfolg in einem mitreißenden Finale gegen Dominic Thiem hat ihn auf eine neue Stufe katapultiert. Dabei wusste Tsitsipas anfangs gar nicht, was er nun eigentlich zu empfinden habe. "Ehrlich gesagt, fühle ich gar nichts", sagte er schmunzelnd: "Es sind zu viele verschiedene Emotionen."
"Magische Nacht"
In Euphorie über den jüngsten Finalsieger seit 18 Jahren verfielen zunächst andere. In seiner Heimat beispielsweise feierten ihn die Medien als "Stefanos, der Große" oder jubelten über eine "Magische Nacht in London". Selbst Verlierer Thiem outete sich als aufrichtiger Fan. "Er ist großartig fürs Tennis, weil er einen sehr attraktiven Spielstil hat, eine wunderschöne Technik", sagte der Österreicher.
Tsitsipas spielt Angriffstennis, eine elegante einhändige Rückhand und "attackiert wirklich jeden Ball, der zu kurz gerät", wie der im Halbfinale unterlegene Roger Federer feststellte. Keine Frage: Tsitsipas besitzt das Potenzial, die erdrückende Dominanz der "Großen Drei" Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic zu durchbrechen.
Neue Generation
Der Sprössling einer russischen Mutter und eines griechischen Vaters ist in jedem Fall der heißeste Anwärter auf die Rolle des Superstars innerhalb der neuen Generation von Tennis-Helden. Eine Rolle, die er genauso wie den Titel des ATP-Finalsiegers von Alexander Zverev geerbt hat. Vor allem bei den jüngeren Tennisfans hat Tsitsipas schon jetzt eine große Anhängerschaft. Sein "Vlog", eine Art Video-Tagebuch auf YouTube, in dem er von seinen Reisen während der Saison berichtet, hat über 160.000 Abonnenten.
Bei allem Jubel über den neuen Shootingstar der Tennisszene ist allerdings auch Vorsicht geboten. Schließlich hatte im Vorjahr in London schon einmal ein 21-Jähriger triumphiert und sich auf dem besten Weg gewähnt, die große Wachablösung in der Weltspitze einzuleiten. In der Folgesaison erlebte er dann die erste echte Krise seiner Karriere. Sein Name: Alexander Zverev.
Von Pirmin Closse