"Fantastisch, episch, gigantisch!" Mit Worten wie diesen wurde das heurige Wimbledon-Finale von der Presse gelobt, manche Tennisfans wollen das beste Finale aller Zeiten gesehen haben. Wie analysieren Sie den Sieg von Carlos Alcaraz über Novak Djokovic mit ein wenig Abstand?
GÜNTER BRESNIK: Ich kann dem nicht zustimmen. Der erste Satz war total schlecht, der vierte okay. Und mich hat überrascht, wie leichtfertig Djokovic das Tiebreak in Durchgang zwei aus der Hand gegeben hat. Novak hat aber ohnehin das ganze Match hindurch nicht sein bestes Tennis gespielt.
Was könnte der Grund dafür gewesen sein?
Ich habe die Theorie, dass ihn die Rivalitäten mit Roger Federer, Rafael Nadal und auch Andy Murray zu Höchstleistungen getrieben haben – das gilt für die anderen natürlich auch. Nicht nur im Match, sondern auch in der Zeit dazwischen, beim Training oder der Matchvorbereitung. Und diese Rivalität existiert mit Alcaraz nicht. Ich habe immer gesagt, dass bei Djokovic die Motivation verloren gehen wird, sobald es den ständigen Wettkampf mit Nadal und Federer nicht mehr gibt und er 23 Grand-Slam-Titel gewonnen hat. Alcaraz hingegen spielte befreit auf und tut sich gegen die Älteren leichter, denn die sind am absteigenden Ast. Die Äste sind zwar hoch, aber eben absteigend.
Sollte etwa Rafael Nadal noch einmal zurückkommen, ist es denkbar, dass er Alcaraz dann fordern kann, oder ist dessen Spiel zu innovativ, schnell und druckvoll?
Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass Federer, Nadal, Djokovic und vielleicht auch Murray zu ihren besten Zeiten besser gespielt haben, als es Alcaraz heute tut. Also ja, wenn Nadal dieses Level noch einmal erreichen sollte.
Aber was zeichnet Alcaraz dann aus?
Er kann jeden einzelnen Schlag und ist bereits ein kompletter Spieler, vor allem ist er aber ein unglaublicher Athlet. Ich erzähle immer das, was mir Gaël Monfils geschildert hat. Der meinte nach einem Spiel gegen ihn, dass die Schläge von Alcaraz zwar schnell und wuchtig seien, aber dass das für ihn als Gegner nicht das große Problem gewesen sei. Sondern dass er sich erschrocken habe, als er gesehen habe, wie schnell Alcaraz sei. Und Monfils muss es wissen, der ist selber einer der Schnellsten auf der Tour. Darüber hinaus ist Alcaraz ernsthaft – und trotzdem verspielt. Das klingt widersprüchlich, ist es aber nicht. Und er hat mit Juan Carlos Ferrero einen der besten Trainer, der über extrem viel Erfahrung verfügt und Alcaraz keinen Raum für Blödheiten lässt. Alexander Zverev hat auch einmal unter Ferrero trainiert, hat aber nach kurzer Zeit die Segel gestrichen, weil ihm die Gegebenheiten zu militant waren. Ferrero mag manchmal zu streng sein, aber der Erfolg gibt ihm recht.
Kann Alcaraz eine Ära prägen?
Er hat das Glück, dass er die Bühne betritt, wenn die Besten aller Zeiten ans Abdanken denken oder es bereits gemacht haben. Das Niveau in den Top Ten ist derzeit auch nicht das beste und in seiner Altersklasse ist er allein auf weiter Flur. Er könnte die nächsten Jahre dominieren, muss aber seine Erfolge erst bestätigen. Es kann immer etwas passieren, Verletzungen hatte er schon ein paar, aber es könnte ihm zum Beispiel auch einfach langweilig werden.