Zehn Siege en suite, 20:0-Sätze und nicht einmal ein Tiebreak gespielt: Das Märchen der Emma Raducanu hat am Samstagabend in Flushing Meadows ein Happy End erfahren. Die 18-jährige Britin triumphierte bei den US Open über die nur zwei Monate ältere Kanadierin Leylah Fernandez (19) mit 6:4,6:3. Am Tag vor Novak Djokovic' Versuch, die Geschichtsbücher im Tennis neu zu schreiben, sorgte Raducanu für Historie im Damen-Tennis. Und Großbritannien steht nach dem Titel Kopf.
Selbst Queen Elizabeth äußerte sich zum ersten Grand-Slam-Titel einer Britin seit Virginia Wade 1977 (Wimbledon): "Das ist ein beeindruckender Erfolg in einem so jungen Alter und ein Beleg für harte Arbeit und Einsatz", schrieb das Oberhaupt der britischen Krone an die im kanadischen Toronto geborene Einwanderertochter eines Rumänen und einer Chinesin, die seit ihrem zweiten Lebensjahr in London wohnt und unter britischer Flagge antritt. "Ich habe keinen Zweifel daran, dass ihre herausragende Leistung und die ihrer Gegnerin Leylah Fernandez die nächste Generation Tennisspieler inspirieren wird."
Ein wahres Wort aus königlichem Munde. Raducanu selbst war völlig überwältigt. "Es ist ein absoluter Traum", freute sich der neue Star, der sich im WTA-Ranking von Platz 150 auf 23 katapultiert. 2,5 Millionen Dollar (2,11 Mio. Euro) darf sie als Lohn einstreifen. Obwohl sie zum Titel regelrecht durchmarschiert ist, sei es gar nicht so einfach gewesen wie es ausschaue. "Auch wenn ich auf dem Papier keinen Satz abgegeben habe, habe ich in jedem Match viel Widerstand erlebt." Sie habe in diesem Turnier besonders gut gespielt, wenn sie unter Druck gestanden ist.
Im Duell zweier Teenager, die außerhalb der Tennis-Welt kaum jemand kannte, legte Raducanu die etwas reifere Leistung ab. Sie ist die erste Spielerin, die bei ihrer erst zweiten Teilnahme bei einem Major-Turnier den Titel gewann. In Wimbledon erreichte sie das Achtelfinale, nachdem sie erst im Juni in Nottingham ihr Debüt auf der WTA-Tour gegeben hatte. Die Trophäe auf dem Platz bekam sie von Billie Jean King überreicht.
Zwei Teenagerinnen in einem Grand-Slam-Endspiel hatte es zuletzt 1999 gegeben, als Serena Williams gegen Martina Hingis gewann. 2021 standen sich zwei in Kanada geborene, junge Frauen mit asiatischen Wurzeln gegenüber. Und boten den Zuschauern im Arthur Ashe Stadium eines der besseren Frauen-Endspiele der jüngeren Vergangenheit samt mitunter spektakulären Ballwechseln. Die (noch) Weltranglisten-150. Raducanu holte sich das erste Break zum 2:0, kassierte aber sofort das Rebreak im ersten Satz. Dennoch ging der erste Durchgang nach dem zweiten Break zum 6:4 nach 58 Minuten an die etwas druckvoller spielende Raducanu.
Im zweiten Satz gelang Fernandez das erste Break zum 2:1, dieses Mal glich Raducanu postwendend aus und konterte mit einem weiteren Break zum 4:2. Fernandez konnte zwei Matchbälle abwehren und auf 3:5 mitsamt einer eigenen Breakchance verkürzen, ehe Raducanu sich ein blutendes Knie zuzog und nach der Behandlungspause ihre Nerven wieder im Griff hatte. Nach 1:51 Stunde nutzte die Britin den dritten Matchball und machte den Sieg - gleichsam ihr erster großer Turnier-Erfolg auf Profiebene - mit einem Ass perfekt.
"Ich habe keine Ahnung, was ich morgen tun werde", sagte Raducanu. "Ich versuche einfach den Moment zu genießen. Im Moment liebe ich einfach nur das Leben."
Für einen emotionalen Höhepunkt sorgte nach dem Match auch noch die ihr unterlegene Fernandez, die damit die Herzen der New Yorker gewonnen hat. Als sie ihre Antworten gegeben hatte, nahm sich die 19-Jährige im vollen Arthur Ashe Stadium und vor Millionen Fernsehzuschauern das Mikrofon nochmals zurück und zollte in Gedenken an die Ereignisse von 9/11 vor 20 Jahren Tribut an die Einwohner der Metropole. "Ich weiß, dass dieser Tag besonders hart für New York und jeden in den USA war. Ich möchte nur sagen, dass ich hoffe, so stark und widerstandsfähig sein zu können, wie es New York in den vergangenen 20 Jahren war."
Lob von Roddick
Fernandez war zum Zeitpunkt der Terror-Attacken noch gar nicht geboren, doch die ehrlichen und emotionalen Worte berührten die Fans, und sie erhielt auch in den sozialen Netzwerken Lobeshymnen wie u.a. auch von Ex-Star Andy Roddick: "Dass Leylah das Mikrofon zurückverlangt, um über 9/11 zu reden war einer der nobelsten, empathischsten und reifsten Momente, die ich je einem Interview direkt nach dem Match gesehen habe - und sie ist erst 19. Es hat mich umgehauen." Beide Teenager haben jedenfalls bewiesen, dass sie nicht nur auf dem Platz die Reife zum Grand-Slam-Titel haben.