Muster peitschte in gewohnt stöhnender Manier eine umlaufene Rückhand mit einer Topspin-Vorhand longline hinunter, Changs Rückhand segelte darauf ins Aus. Ein kurzer Aufschrei, die Hände gen Himmel gerissen, dann fiel der Österreicher rücklings in den Pariser Sand. „Spiel, Satz und Sieg, Muster“, schrie der Schiedsrichter unter dem Jubel und Applaus der 15.000 Zuschauer am Court Philippe Chatrier am 11. Juni 1995 um Punkt 17.22 Uhr in sein Stuhlmikrofon und verkündete damit aus rot-weiß-roter Sicht einen sporthistorischen Moment.
Mit einem souveränen 7:5, 6:2, 6:4-Erfolg über den US-Amerikaner Michael Chang fixierte der 27-jährige Thomas Muster bei den French Open sein persönliches Meisterstück und den bis heute einzigen Tennis-Grand-Slam-Titel für Österreich. Ein Triumph, der sogar den allmächtigen Fußball degradierte: Das am selben Tag vom ÖFB-Team erkämpfte 3:1 in der EM-Qualifikation gegen Irland verkümmerte quasi zur Randnotiz.
Musters Sieg (der 35. auf Sand in Folge), der ihm tags darauf erstmals Platz drei in der Weltrangliste bescherte, war nur die logische Folge einer unglaublichen Saison, in der der Leibnitzer gleich zwölf seiner insgesamt 44 ATP-Titel abgeräumt hatte. Ein bis heute unerreichter Erfolgsmarsch, der am 12. Februar 1996 mit Musters Eroberung von Platz eins der Weltrangliste gipfelte. Sechs Wochen thronte der Steirer über die Tenniswelt – ebenso als einziger Österreicher bis zum heutigen Tag.
Die "jubiläumsscheue" Legende
Unzählige Male wurde Muster bereits auf seine einstige Großtat angesprochen, die Antworten der „jubiläumsscheuen“ Legende fielen meist bescheiden aus: „Die Dimension dieses Erfolgs ist mir durchaus bewusst. Aber das Leben geht weiter und ich bin keiner, der in der Vergangenheit lebt“, gibt er immer wieder zu Protokoll. Und vor fünf Jahren, zum 20-jährigen Paris-Jubiläum, erklärte der Südsteirer mit Wohnsitzen in Graz und Neuseeland: „Ich machte nur meinen Job. In Respekt vor den Leistungen anderer weiß ich heute, dass sich die Welt nicht nur um den Tennisball dreht.“
Weit mehr Einblicke in seine Gefühlswelt gaben da schon jene Worte, die am Tag des großen Triumphs aus dem heute 52-Jährigen heraussprudelten. Sätze wie „Im ersten Moment war ich sprachlos. Kein Mensch kann sich vorstellen, was sich hier für ein Druck in einem aufstaut“ oder „Ich war wie eine Geisel, der Matchball wie die Befreiung. Es ist ein fantastisches Gefühl“ lassen erahnen, das Muster für die Erfüllung seines Traums gleich mehrere Gegner bezwingen musste.
„Ich werde diesen Sieg bis zu meinem letzten Atemzug mit mir tragen, aber er wird mein Leben hoffentlich nicht verändern“, sagte Österreichs Sportheld damals. Er tat es aber doch. Muster, Niki Lauda, Franz Klammer – dies sind jene Namen, die Österreich auf die Weltbühne des Sports gehoben haben und noch heute weit über die Grenzen hinaus glänzen.
Dem Tennissport hat Muster auch nach seinem (inoffiziellen) Karriereende 1999 nach einer Erstrundenniederlage in Paris gegen den Ecuadorianer Nicolas Lapentti die Treue gehalten. Er mimte von 2003 bis 2006 Österreichs Davis-Cup-Kapitän, gab 2010 ein überschaubar erfolgreiches Comeback und fungierte zuletzt als rot-weiß-roter ATP-Cup-Kapitän, Berater von Anastasia Sewastowa sowie Kurzzeitbetreuer von Dominic Thiem.
Thiem war es auch, der 2011 als 18-Jähriger die zweite Karriere des damals 44-jährigen Musters bei den Wiener Erste Bank Open beendete. Und Thiem ist es auch, der wohl demnächst Musters Meisterstück wiederholen wird. 2018 und 2019 klopfte der Lichtenwörther bereits zwei Mal in Paris an, als er jeweils erst im Endspiel an Rafael Nadal scheiterte. Und im heurigen Melbourne-Finale gegen Novak Djokovic war der erste Grand-Slam-Titel zum Greifen nahe, ehe Thiem noch in fünf Sätzen verlor. Aber: „Dominic ist längst in meine Fußstapfen getreten. Ich bin überzeugt, dass er die Nummer eins werden wird“, verneigt sich Muster vor seinem designierten Nachfolger.