Erstmals seit 1992 startet die Tour de France, das wichtigste Radrennen der Welt, wieder im spanischen Baskenland. Nicht weniger als acht Bergetappen (vier Bergankünfte) und rund 3400 Kilometer sind für die 176 Starter aus 22 Teams, darunter auch sechs Österreicher, zu absolvieren. Die zwei Favoriten sind bei der am Samstag beginnenden 110. Auflage ein Level über alle anderen zu stellen: Vorjahressieger Jonas Vingegaard und 2020- und 2021-Champion Tadej Pogacar.
Während der 26-jährige Däne aus dem Jumbo-Visma-Team mit einem überlegenen Sieg beim schwierigen Critérium du Dauphiné eine tolle Generalprobe hingelegt hat, steht hinter Pogacar ein kleines Fragezeichen. Der im Vorjahr nach zwei Siegen von Vingegaard entthronte UAE-Profi, der bei der Tour wieder vom Österreicher Felix Großschartner unterstützt wird, kommt von einer zweimonatigen Verletzungspause zurück. Pogacar hatte den Dänen bei der Paris–Nizza-Rundfahrt noch klar besiegt, brach sich dann aber beim Klassiker Lüttich–Bastogne–Lüttich Ende April bei einem Sturz das linke Kahnbein. Die slowenischen Meisterschaften waren vergangenes Wochenende seine seither einzigen Rennen. Pogacar gewann standesgemäß sowohl das Zeitfahren als auch das Straßenrennen.
Pogacar, der sich u. a. im Höhentrainingslager in der Sierra Nevada vorbereitet hat, strahlt dennoch Zuversicht aus. "Wir haben als Team so hart gearbeitet, um uns vorzubereiten, und alles ist so, wie es sein soll", wird er auf der Teamwebsite zitiert. Es werde einige starke Gegner geben wie bei allen großen Rennen. "Wir wollen dort eine gute Show bieten, natürlich mit dem Ziel des Sieges."
Weltmeister Remco Evenepoel (BEL), der Olympiasieger und diesjährige Giro-Sieger Primož Roglič (SLO) und Ex-Tour-Champion Geraint Thomas (GBR) sind nicht am Start, sie hatten alle den Giro d'Italia vorgezogen.
Vingegaard war nach seinem elften Saisonsieg bei der Dauphiné noch happy und sprach von seiner guten Form. Für Merijn Zeeman, den Sportdirektor des niederländischen Teams, sind nach dem Überraschungssieg von Vingegaard im Vorjahr die Ziele sehr hoch. "Wir haben vergangenes Jahr unsere wildesten Träume erfüllt mit sechs Etappensiegen, den Trikots für die Bergwertung und am wichtigsten jene für die Punkte- und Gesamtwertung. Dieses Jahr haben wir wieder große Träume. Wir wollen das Gelbe Trikot wieder nach Paris bringen." Nach dem Sieg beim Giro durch Roglič strebt Jumbo das "Double" an. Auch für Vingegaard wäre es sein persönliches Double.
Einen Platz auf dem Podium peilt u. a. auch Ben O'Connor aus dem AG2R-Team von Felix Gall, dem Tourdebütanten aus dem Österreicher-Sextett in Frankreich, an. "Er ist richtig gut in Form und war bei der Dauphiné Dritter", sagte Gall über den 2021 bei der Tour viertplatzierten Australier. Der im Vorjahr verletzt ausgeschiedene O'Connor wird wie Jai Hindley (Bora), David Gaudu (Groupama) und Romain Bardet (DSM) aber wohl maximal die dritte Geige spielen. "Man muss sagen, vom Papier her wird es Vingegaard oder Pogacar, dahinter kämpft der Rest", meinte Gall zur nicht nur für ihn klaren Ausgangslage.
Die Tour wird 2023 auf jeden Fall in den Bergen entschieden. Acht Etappen durch das Hochgebirge, darunter vier Bergankünfte, warten auf die Fahrer. Die Tour kommt erst am dritten Tag nach Frankreich, die erste Bergankunft steht am sechsten Tag in Cauterets-Cambasque an. Danach kommt es noch zu Zielankünften in der Höhe auf dem mythischen Puy-de-Dôme, einem erloschenen Vulkan, der erstmals seit 35 Jahren wieder Teil der Tour ist, sowie dem Grand Colombier und in Saint-Gervais Mont Blanc. Die Entscheidung sollte am vorletzten Tag auf der schweren Etappe nach Le Markstein Fellering mit fünf Anstiegen fallen. Dagegen gibt es nur ein Zeitfahren auf der 16. Etappe über 22,4 km. Diese Tourauflage kommt also mit insgesamt 30 Anstiegen der höchsten Kategorien, davon zwölf in den Alpen, klar den Kletterern entgegen.
Das Finale steigt am 23. Juli wie immer auf den Champs-Élysées in Paris. Wie immer? Mitnichten, denn 2024 kommt die große Ausnahme von der Regel. Wegen der Olympischen Sommerspiele in Frankreich wird die "Große Schleife" im kommenden Jahr in Nizza enden. Die Abschlussetappe wird ein 35-km-Zeitfahren von Monaco nach Nizza sein.
Die sechs Austro-Profis befinden sich allesamt in Helferrollen in ihren Teams, so auch der erst im letzten Drücker von Bora nominierte und zum fünften Mal antretende Patrick Konrad und sein Teamkollege Marco Haller, der gar schon zum achten Mal dabei ist. Neben den erwähnten Profis Großschartner (3. Tour) und Gall (1.) sind auch Michael Gogl (6./Alpecin) und Gregor Mühlberger (5./Movistar) mit von der Partie.