Wout van Aert und Remco Evenepoel, die Halbgötter des belgischen Radsports, sind das ganze Jahr über Rivalen. Am Sonntag im WM-Straßenrennen müssen sich die beiden im Nationaltrikot einigen, damit sich das belgische Fiasko aus dem Vorjahr nicht wiederholt. Beide betonen den Lerneffekt - und hoffen, der latenten Gefahr von Attacken aus der Luft zu entgehen.
Der traumhafte Blick auf die Sandstrände in Wollongong, die knapp 90 km südlich von Sydney gelegene 260.000-Einwohner-Stadt, und der viele Sonnenschein im australischen Frühling täuschen. Bei der Rad-WM in Down Under ist aufgrund des welligen, aber nicht allzu bergigen Parcours nicht nur die Liste der Favoriten lang, es droht auch Gefahr von oben.
Die "Magpies", bei uns bekannt als Elstern, sind los. Gerade jetzt während der Brutzeit kommt es oft vor, dass diese Vögel Radfahrer attackieren. Dabei haben sie selbstredend nicht das Regenbogentrikot des neuen Weltmeisters, sondern die Verteidigung ihres Revieres im Visier.
Zahlreiche WM-Teilnehmer haben in den vergangenen Tagen unliebsame Bekanntschaft mit den herabstürzenden Vögeln gemacht. Unter ihnen auch Österreichs Daniela Schmidsberger. "Es ist schon unangenehm, weil sie ja nicht nur auf den Helm gehen, sondern auch versuchen dich am Kopf zu erwischen. Auf der anderen Seite treibt dich das auch im Training an", schmunzelte die Juniorin.
Nicht ganz so gelassen reagierte der belgische Jungstar Remco Evenepoel, als ihm "ein ziemlich grosser Vogel sehr nahe kam" und ihn verfolgte. "Es war erschreckend. Aber das ist anscheinend Australien. Ich hoffe, es ist das einzige Mal, dass das passiert, aber ich habe Angst davor." Bronze im Einzelzeitfahren war für Evenepoel eine Enttäuschung - und warf deshalb Fragen nach seinem Formstand auf.
Mit dem frischgebackenen Gewinner der Spanien-Rundfahrt, und Van Aert, dem großen Klassiker-Jäger, verfügt das belgische Team über zwei absolute Ausnahmekönner. Eine Luxussituation, die aber auch Probleme bereiten kann, wenn es darum geht, dass die beiden Flamen für die Dauer eines Rennens gemeinsame Sache machen.
Die Heim-WM in Flandern endete im Vorjahr in einer Katastrophe. Die als große Favoriten gestarteten Belgier, die Van Aert zum Leader ernannt hatten, ließen sich von der Konkurrenz übertölpeln, verpassten sogar das Podest und mussten dem Franzosen Julian Alaphilippe zur erfolgreichen Titelverteidigung gratulieren.
Was folgte, war eine mediale Schlammschlacht, die die Situation weiter verschärfte. Evenepoel, der sich für seinen Captain opfern musste, kritisierte im flämischen Fernsehen die gewählte Strategie und versicherte, dass er selbst die Beine gehabt hätte, um Weltmeister zu werden. "Enttäuschend", urteilte Van Aert sofort und behauptete, dass Evenepoel mit der vor dem Rennen festgelegten Taktik einverstanden gewesen sei. "Er hat mehr im Fernsehen geredet als im Bus."
Ein Jahr später sind die beiden Alphatiere wieder gemeinsam im Trikot der belgischen Nationalmannschaft unterwegs, und versichern, mit der Vergangenheit abgeschlossen zu haben. Dem Ziel, nach dem Triumph von Philippe Gilbert vor zehn Jahren wieder das Regenbogentrikot in die Heimat zu holen, werde alles untergeordnet. "Wir haben aus unseren Fehlern vom letzten Jahr gelernt. In diesem Jahr werden unsere Gegner auf zwei Belgier aufpassen müssen und nicht nur auf einen", versichert Van Aert, der sogar auf das Zeitfahren verzichtet hat, um alles auf die Karte Straßenrennen zu setzen.
Auf Van Aert und Evenepoel wartet aber harte Konkurrenz. Auch wenn Titelverteidiger Julian Alaphilippe, der seinen dritten WM-Titel in Folge anstrebt, nach seinem Sturz bei der Vuelta nicht mit einer optimalen Vorbereitung an den Start geht. Zu den Siegesanwärtern zählt neben dem zweifachen slowenischen Tour-de-France-Sieger Tadej Pogacar oder dem Lokalmatador Michael Matthews etwa auch der Niederländer Mathieu van der Poel.