Die Flandern-Rundfahrt am vergangenen Sonntag, das Amstel Gold Race und Paris-Roubaix vor der Türe, schauen Sie eigentlich gerne Radrennen im Fernsehen?
ANNA KIESENHOFER: Es ist eine Frage der Prioritäten – meistens hatte ich einfach keine Zeit. Ich habe irgendwie gar nicht so die Routine, Rennen anzuschauen.
Ihre Zeit ist nach dem Olympiagold im Vorjahr wohl noch gedrängter als zuvor?
Es hält sich die Balance, weil ich auf der Uni mehr oder weniger aufgehört habe. Die frei gewordene Zeit wird aber nun von anderen Dingen beansprucht.
Was beansprucht Sie gerade?
Nach Tokio war die Sponsorensuche sehr zeitaufwendig, hat viel Energie gekostet. Genau so wie die Aufmerksamkeit von diversen Medien.
Man möchte meinen, dass einem die Sponsoren nach dem Olympiasieg die Türe eintreten?
Eigentlich nicht. Geschenke bekommt man viele. Also etwa Material, wo sich der Hersteller dann erhofft, dass man die Fotos auf Instagram und Co. reinstellt. Cash ist aber schwierig zu bekommen.
Dabei hat ja der Damen-Radsport an Ansehen und Priorität gewonnen . . .
Ich sage nicht, dass es unmöglich ist und ich hatte auch Glück mit guten Sponsoren, aber es ist nicht leicht. Es kommt niemand mit dem einen Superangebot. Man muss darum kämpfen.
Olympiagold öffnet also nicht die Goldkiste?
Nein. Wenn jemand glaubt, dass er was billig haben kann, dann zahlt er nicht automatisch. Es überwiegen natürlich die Leute, die zuerst versuchen, etwas billig zu bekommen oder am besten gar nichts bezahlen.
Wie misst man seinen Wert auf einem Markt?
Eigentlich ist es nicht schön, einen Menschen durch einen monetären Wert zu definieren. Aber es ist im Profisport so, dass man in einem gewissen Sinn ein Produkt ist. Wie man dessen Wert bestimmt? Trial and error – Versuch und Irrtum, denke ich. Es ist aber sicher gut, wenn man mit einem erfahrenen Manager arbeitet, der diesen Prozess schon mit anderen Athleten ausprobiert hat und es aufgrund seiner Erfahrungen einschätzen kann. Am Ende ist es wie auf dem freien Markt: Angebot und Nachfrage. Man versucht es mit einem Preis. Wenn der Sponsor ihn akzeptiert, dann ist das mein Wert. War der Preis zu hoch, muss ich ihn verringern.
Ist es Ihnen schwergefallen, die Uni zu verlassen?
Der Schritt wurde mir eigentlich leicht gemacht, weil es so klar war. Ich hatte nach den Spielen so viel um die Ohren, dass ich mich hätte entscheiden müssen: Entweder bleibe ich auf der Uni und bin damit eine Olympiasiegerin, die nicht existent ist für Sponsoren oder Medien, oder ich bin Anna, die Olympiasiegerin und dafür nicht mehr auf der Uni. Natürlich tut es mir leid um die Mathematik. Aber das ist eine einmalige Gelegenheit und zur Mathematik kann ich später in irgendeiner Form zurückkehren.
Kann man in Mathematik nicht einrosten?
Was das spezifische Gebiet angeht schon. Ich könnte dann nicht von einem Tag auf den anderen in mein ehemaliges Forschungsgebiet zurückkehren. Allerdings gibt es viele schöne Nischen in der Mathematik und mir schwebt vor, nach meiner aktiven Karriere eher eine zu suchen, die Sport und Mathematik vereint.
In die Leistungsdiagnostik, oder die Aerodynamik?
Das sind zwei interessante Bereiche. Einerseits die Sportphysiologie – also was geht im Körper ab – und die Arten, das zu modellieren und die Aerodynamik. Wo man auch sehr viel mit Mathematik und analytischem Denken manchen kann.
Sie sind stets gut organisiert, auch was die Renntaktik anbelangt. Was ist im Radrennsport wichtiger: sich an den Plan zu halten, oder auch impulsiv zu sein?
Darüber musste ich nie wirklich nachdenken, weil es sich immer ergeben hat. In Tokio zum Beispiel war mein Plan die Attacke bei Kilometer null – und das hat funktioniert. Der Rest hat sich automatisch ergeben. Als meine Ausreißerkolleginnen müde wurden, war klar, dass ich attackieren muss und solo gab es dann keine andere Alternative, als alles zu geben.
Aber Sie haben schon lieber einen Plan?
Den mache ich mir im Vorfeld immer. Ich fahre ja auch nicht so viele Straßenrennen und wenn, ist es für mich immer etwas Besonderes. Davor schaue ich mir den Kurs an und überlege mir genau, was ich zu Beginn mache. Dann gibt es aber so viele Varianten, dass man nicht alle Kombinationen durchgehen kann. Da würde man verrückt werden, wenn man das alles durchplant.
Man hat Ihnen lange unterstellt, dass Sie schlecht bergab fahren. Dabei waren sie bei Olmypia in der langen Abfahrt gleich schnell wie die spätere Zweite Annemiek van Vleuten. Worauf haben Sie sich konzentriert, als sie in Tokio dann alleine waren?
Ich habe zuerst an meine Kolleginnen aus der Gruppe gedacht. Ich wollte sie abschütteln und habe sie etwas überschätzt. Ich dachte, dass sie mir noch einmal gefährlich werden könnten, wenn sie zusammenarbeiten. Ich wollte auf die beiden einen Vorsprung herausfahren, bevor es flach wird. Das bereue ich jetzt fast ein wenig, weil ich dadurch die Verpflegung vernachlässigt habe. Ich habe nicht ordentlich gegessen und getrunken, deshalb ist mir am Ende fast die Energie ausgegangen.
Aber Sie haben sich noch gut "drübergerettet" …
So hat es zumindest im Fernsehen und von außen ausgesehen.
Sie wurden Sportlerin des Jahres. Ihr männliches Pendant Vincent Kriechmayr hat gesagt, dass es "den Kühen im Stall vollkommen egal wäre, was ich gewinne". Für wen haben Sie sich nicht verändert?
Natürlich meine Familie. Wobei, eigentlich nicht "natürlich". Es gibt sicher auch Familien, die in so einer Situation unglaublich stolz sind und ein Trallala machen. Meine Familie hat sich gefreut, aber sie freut sich über alles, was mir wichtig ist. Über Schönes, wie mein Haus. Da spielt es keine Rolle, welchen gesellschaftlichen Stellenwert man hat, oder wer man auf dem Papier ist. Es geht mir ein bisschen auf die Nerven, dass ich jetzt plötzlich "jemand bin" und zu Events eingeladen werde, wo alle Leute irgendwelche Titel haben: Nobelpreisträger, Präsidenten oder was weiß ich sind. Oberflächlichkeit geht mich immer ein bisschen an und da ist es schön, dass es immer noch Menschen gibt, für die ich die Anna bin.
Auch wenn Sie das Oberflächlich stört, schöpfen Sie aus dem Titel nicht auch Selbstvertrauen? Wurden Sie dadurch ein anderer Mensch in der Öffentlichkeit?
Wenn man plötzlich selbst so einen Titel hat, fällt es viel leichter zu sagen, dass einem die Oberflächlichkeiten egal sind. Weil man irgendwie drübersteht. Diese Leichtigkeit zu haben, ist irrsinnig viel wert. Hat man so einen Titel nicht, dann lässt mach sich leicht von Menschen einschüchtern, die solche Titel tragen. Ich war immer schon anders, aber die Medaille hat mir viel Selbstvertrauen gegeben, das mir früher gefehlt hat. Ich bin zwar immer meinen Weg gegangen, aber immer mit einem unguten Gefühl. Einer Unsicherheit auch gegenüber den Menschen, die Erfolg und große Titel hatten. Es ist sehr schön, diese Genugtuung zu haben, dass mein Weg zum Erfolg geführt hat und ich nicht mehr unsicher zu sein brauche.
Sie waren auf der World Tour, haben diese aber rasch wieder verlassen. Was hat Ihnen an diesem Zirkus nicht gepasst?
Ich bin nicht die typische Radsportlerin. Der UCI-Radsport liegt mir nicht. Er liegt meinem Charakter nicht. Ich habe nicht die Risikobereitschaft, um vernünftig im Feld zu fahren. Dass man den Anordnungen des Teamchefs gehorchen muss, war für mich ebenso ein Problem wie der volle Terminkalender und das ständige Reisen von Hotel zu Hotel. Ich bin eher ein ruhiger Mensch und habe gerne einen geregelten Ablauf. Für mich ist jedes Rennen auch ein großer Stress und man muss dann auch viele fahren und kann sich nicht auf ein großes Rennen konzentrieren.
Sie haben angekündigt, sich heuer speziell auf Zeitfahren zu konzentrierten. Aber die Straßen-Staatsmeisterschaften in Gratwein-Straßengel werden Sie bestreiten?
Ich komme und ich will auch gewinnen. Aber das wollen andere auch.
Was macht das Radfahren für Sie zur Freude?
Es ist nicht nur das Radfahren, sondern der Ausdauersport im Allgemeinen. Um ehrlich zu sein, vor allem der Ausdauersport – alleine ausgeübt. So bin ich einfach. Ab und zu ist eine Gruppenausfahrt auch schön, aber ich mag es, alleine zu fahren oder zu laufen, jede Art der Fortbewegung. Beim Radfahren hat man nur den Vorteil, dass es weniger verletzungsanfällig ist, man lange unterwegs sein kann. Ich mag den Kampf mit mir selbst, wenn es unbequem wird. Es gibt in unserer Gesellschaft so viel Komfort, ich suche aber das Gegenteil. Man hängt den ganzen Tag nur herum. Ständig wird einem angeboten, dass man mit dem Auto chauffiert wird, man hat es schön warm, bekommt zu essen. Ich finde genau den Kontrast so super, dass man absichtlich den Schmerz und die Unbehaglichkeit sucht. Im Wind und in der Kälte zu fahren, macht mir paradoxerweise Spaß, lässt mich den Komfort dann wieder genießen. Dann schätzt man die Wärme und das Essen wieder. Die Suche nach dem Kontrast, meine Grenzen auszutesten – das macht mir Spaß. Und: Ich will mich verbessern. Ich finde es cool, schnell zu sein.
Wie fühlte es sich dann nach Tokio an, als Sie Ihr Ziel erreicht hatten?
Da war der Druck weg, aber ich habe meine intrinsischen Motivation wiedergefunden. Es hat sich zwar zuerst die Sinnfrage gestellt: Warum trainiere ich noch, wenn ich kein wichtiges Rennen mehr habe? Da ist mir aber bewusst geworden, dass ich den Sport zuallererst für mich selbst mache.
Menschen streben nach mentaler Belohnung. Welche Emotionen empfinden Sie, wenn Sie ein mathematisches Problem lösen und welche, wenn Sie ein Rennen fahren?
Sehr ähnliche. Genugtuung und Stolz sind bei beidem da. Beim Sport kommt aber die hormonelle Komponente hinzu. Da geht im Körper biochemisch etwas ab und man kommt in einen "Fight and Flight"-Modus (Kampf oder Flucht Anm.), den man in der Mathematik nicht so hat. Wenn man intensiver fährt, kommt man an das cardiovaskuläre Limit (Herzkeislaufsystem Anm.), es werden so viele Hormone ausgeschüttet. Das spürt man, das macht glücklich. In der Mathematik geht meine Herzfrequenz nicht rauf, mein Laktatspiegel steigt nicht und ich spüre auch keinen Schmerz. Das Besiegen eines Schmerzes löst sehr viel aus.
Gab es je einen Moment, an dem Sie Gold "bereut" haben?
Nie. Selbst, wenn es negative Effekte gibt, also wenn es mich anzipft, ein Fotoshooting zu haben, ist das Problem nicht die Medaille an sich. Wenn es mir zu blöd wird, verabschiede ich mich halt (lacht).