Es ist Giro und irgendwie fühlt es sich an, als wäre das Dolce Vita im Radsport zurück. Ihr Eindruck?
Bernhard Eisel: Es wird schön langsam wieder. Italien hat ja extrem geringe Zahlen. Alles beginnt sich zu öffnen, die Situation wirkt entspannt. Das passt genau zum Giro. Es wird ja noch immer kontrolliert und aufgepasst. Das registriert man erst so richtig, wenn man sich die TV-Bilder ansieht und sagt: Ah, da sind ja wieder Zuschauer.
Was lösen Zuschauer an der Strecke bei den Fahrern aus?
Es ist jetzt nicht vielleicht der zwölfte Mann wie im Fußballstadion, aber trotzdem wird jeder angefeuert. Du hast natürlich mehr Platz mit weniger Zuschauer in den Bergen. Trotzdem als Fahrer vermisst man die Fans sehr. Das merkt man schon, dass sich alle freuen. Aber ich glaube nicht, dass wir in diesem Jahr der Radsport zur Normalität zurückfindet.
Team Ineos fährt einen ganz starken Giro. Deren Top-Fahrer Egan Bernal rangiert an der Spitze des Klassements. Wer kann ihn schlagen?
Im Hochgebirge wird Bernal erst seine große Stärke ausspielen. Er hat ja den Giro jetzt schon fest im Griff. Aber wenn es über 1800, 2000 Meter geht, wird er seine Klasse zeigen. Simon Yates von Team BikeExchange ist ein bisschen der Joker. Aber so wie Ineos derzeit fährt, kann der Sieg nur über Bernal führen. Er müsste schon stürzen. Einen Einbruch sehe ich bei ihm nicht.
Am Samstag wartet der Monte Zoncolan, ganz in der Nähe der österreichischen Grenze. Der Berg ist gefürchtet. Ihre Einschätzung?
Er ist einer der schönsten Berge im Radsport. Zuschauer werden zwar streng limitiert. Aber der Zoncolan bietet eine einzigartige Kulisse. Und wenn dort auch nur 1000, 2000 Leute reingelassen werden – in dieser Arena da oben, ist das ein unglaubliches Erlebnis für die Fahrer. Da herrscht eine Atmosphäre wie in einem Stadion, weil es einfach so ein Kessel ist. Der Zoncolan ist zwar einer der schwersten Berge, aber die Etappe selbst ist bis zu seinem Fuße halbwegs entspannt.
Welche Charakteristik könnte die Etappe besitzen?
Ich glaube, dass der Sieger aus einer Gruppe mit guten Kletterern kommt. Vielleicht sogar Matteo Fabbro, der Lokalmatador und Geheimfavorit aus dem Friaul.
Die Frage wird sein: Wie reagiert Egan Bernal?
Ich weiß nicht, ob er den Berg auf seiner Agenda hat. Es gilt von der Mannschaft abzuwägen: Kontrolle oder Risiko. Und natürlich bedeutet es Prestige, wenn man sagen kann, man hat den Giro am Zoncolan gewonnen. Doch es kommen danach noch schwierige Etappen.
Am Zoncolan steht Ihr Name auf Mauern gesprüht. Wie fühlt es sich für einen Sprinter an, hinaufzufahren?
Ich bin von beiden Seiten raufgefahren – es ist ein unglaublicher Berg. Ich glaube, mit Laufschuhen ist man schneller unterwegs, als ein Sprinter. Ich hatte 2003 meine Premiere am Zoncolan. Das war das letzte Mal, dass Marco Pantani dabei gewesen ist. Dort ist der Mythos schon entstanden. Damals sind wir aber noch von der leichteren Ost-Seite hinaufgefahren. Wer jetzt am Zoncolan einen schlechten Tag hat, und da reichen die letzten zwei Kilometer, verlierst du drei Minuten. Wenn du dort stehen bleibst, bleibst du stehen.
Apropos Pantani: Sind die Tifosi nach wie vor Radsport-verrückt?
In Italien herrscht vor allem ein Mythos um den Giro. Wenn ein Italiener eine Etappe gewonnen hat, war er in seiner Region unsterblich. Man ist der Tour de France näher gekommen. Aber für die Italiener ist und bleibt es ein Fenster, sich zu präsentieren.
Die Tour wirft ihre Schatten voraus. Zählt Sensations-Vorjahressieger Tadej Pogačar wieder zu den Favoriten?
Definitiv. Und Bernal wird das Double versuchen. Aber Ineos hat noch viele andere. Man könnte sich die slowenischen Meisterschaften ansehen – da erhält man schon einmal ein Tour-de-France-Feeling und kann sich hinsichtlich Tour-Podium einen Überblick verschaffen.
Zum Abschluss eine persönliche Frage: Sie mussten die Karriere aufgrund einer Gehirnblutung beenden. Wie geht es Ihnen?
Mir geht es einwandfrei. Ich bin zum Glück bisher auch Covid-frei durchgekommen. Das Radlfahren fehlt mich überhaupt nicht. Auch, weil ich sehe, wie sehr die Jungs da draußen leiden. Nicht nur am Radl, sondern mit den Transfers und bis sie dann wirklich im Hotel sind. Das sind schon unglaubliche Strapazen. Ich habe außerdem lange nicht mehr so viele müde Menschen gesehen, wie nach dem Staub von Strade Bianche. Das war unglaublich, die waren alle am Ende, schlimmer als bei der Bergankunft.