Sie lauern wie zwei tänzelnde Boxer im Peloton der Tour de France. Die Sinne sind in der Anstrengung geschärft, um den entscheidenden Treffer zu landen, wenn der Gegner nicht damit rechnet und ihn so gnadenlos auf die Bretter zu schicken. Herausforderer Tadej Pogačar und Titelverteidiger Jonas Vingegaard haben sich in den vergangenen zwei Jahren bei passender Gelegenheit in den Bergen und Zeitfahren attackiert. Und auch in anstehenden 20 Etappen wird das Duell zwischen dem Slowenen und dem Dänen als ultimativer Höhepunkt vorhergesagt – Vive le tour! Es lebe die Tour.
Es ist ein Duell zweier Kontrahenten, wie es die Tour in ihren bisherigen 110 Ausgaben immer wieder hervorgebracht hat. Coppi gegen Bartali (1949), Anquetil gegen Poulidor (1964), Merckx gegen Ocaña (1971), LeMond gegen Fignon (1989) oder die in ihrer Reinheit retrospektiv befleckten Duelle zwischen Armstrong und Ullrich sowie gegen Pantani bei dessen aberkannten Siegen, um nur ein paar aufzuzählen. Der Kampf um das Gelbe Trikot, das wichtigste Trikot im internationalen Radsport, führte viele an die Grenzen des Erlaubten und darüber hinaus. Ausgehend von Frankreich legte sich das Thema Doping immer wieder wie ein Nebel über den Profiradsport, der sich nach skandalfreien Jahren wieder gelichtet hat.
Doch der Mikrokosmos Tour de France dreht sich nicht nur um diesen Zweikampf. Immer wieder setzen sich Fahrer in Szene, wollen und müssen sich und ihre Teams ins Rampenlicht der großen Bühne fahren. Die Tour bedeutet Geld und Präsenz, die auch durch die beiden Staffeln der Netfilx-Serie an Dimension gewonnen hat. Um Aufmerksamkeit streiten müssen sich die Stars hingegen nicht und erstmals sind bei deiner Landesrundfahrt die „Großen Sechs“ der vergangenen Jahre am Start. Zusammen haben sie zehn Grand Tours, 16 Monumente und 345 Profisiege gewonnen. Neben Pogačar (3/6/77) und Vingegaard (2/-/34) sind das Primož Roglič (Red Bull Bora/4/1/84), Remco Evenepoel (Quick Step/1/2/55), Wout van Aert (Visma//1/46) und Mathieu van der Poel (Alpecin/0/6/49).
Bardet siegte in Rimini
Die Tour ist das Rennen, bei dem sich alle Fahrer in absoluter Topform befinden. Die Leistungswerte sind nach einer langen Trainingsphase, die nach der Klassikersaison im Frühjahr beginnt, die besten. Die Teams absolvieren mehrwöchige Höhentrainingslager, nur unterbrochen von Vorbereitungsrennen wie der Tour de Suisse oder dem Critérium du Dauphiné. Vingegaard blieb nach seinem Horrorsturz im April nur das Training, und die erste Etappe von Florenz nach Rimini waren seine ersten 206 Rennkilometer seit April.
Pogačar (25) und seine Domestiken haben auf dem ersten Teilstück Vingegaard, der tendenziell im Verlauf einer Rundfahrt stärker wird, wahrlich nicht angetestet oder gar das Leben zur Hölle gemacht. Vingegaards Equipe Visma zeigte eine kontrollierende Fahrt ins Ziel von Rimini. Dort retteten sich Romain Bardet und sein Teamkollege Frank van den Broek (Team DSM) den Fluchtsieg. Bardet ist bei seiner letzten Tour der 99. Franzose, der ins Gelbe schlüpft. Van Aert wurde Dritter, Pogačar (4.) verpasste eine Zeitbonifikation.
Wunderkind gegen Roboter
Das Wunderkind aus dem slowenischen Komenda ist die personifizierte Leichtigkeit auf dem Fahrrad. Selbst seine durch die Lüftungsschlitze des Helmes ragenden Haarspitzen, die an einen Wiedehopf erinnern lassen, wirken wie ein perfekt inszeniertes Detail in seinem Spiel auf dem Rad. Im Nachwuchs bereits herausragend, schaffte er es bislang zu 77 Profisiegen und drei Triumphzügen bei Grand Tours – Frankreich gewann er zwei Mal (2020, 2021), Italien erst im Mai dieses Jahres. Gewohnt saß er da in einer perfekten Postion auf seiner Colnago-Maschine und ließ den Rest in den Anstiegen wie Statisten aussehen. Pogačar fährt, wie er lebt. Locker. Gibt sich nahbar, beschenkt Fans auch während Rennen und ist in den sozialen Netzwerken freizügig.
Kurzum: Pogačar ist extrovertiert und hochemotional. „I‘m gone, I‘m dead“, schnaufte er im Vorjahr auf dem Cole de la Loze während der von Felix Gall gewonnen Königsetappe der Tour in das Funkgerät. Und in diese Emotionalität ist Kraft und Verletzlichkeit zugleich. Denn Vingegaard wirkt nicht nur ob seiner blassen Erscheinung wie ein Roboter. Er ist ein eiskalter Vollstrecker, wenn sein Team ihn in Position bringt. Trotz aller Zurückhaltung genießt er den Ruf, im Peloton nahbar, sympathisch und redefreudig zu sein. Während der großen Schleife lassen sie aber ohnehin nur die Beine sprechen.
Doch treffender als mit den Worten von Helmut Qualtinger, der seinerzeit dem Fußballspiel zwischen Kapfenberg und Simmering einen legendären Vergleich beimaß, könnte das Duell um Gelb wohl nicht beschrieben werden: „Pogačar gegen Vingegaard – das nenn‘ ich Brutalität.“