Das Stiegenhaus wirkt kalt und lieblos. Es gibt keinen Lift. In den klobigen Häusern des sozialen Wohnbaus vor den Toren von Wien wurde anno dazumal auf Schlichtheit geachtet. Inmitten dieser eher tristen Umgebung strahlt eine Wohnung besonders viel Wärme und Fürsorge aus. Vor allem aber Zerbrechlichkeit. Vanessa Sahinovic wohnt hier in einem liebevoll gestalteten Ambiente mit ihren Eltern. Wie jede 16-Jährige strebt sie nach Unabhängigkeit. Ihr derzeit größter Wunsch: der L17-Führerschein.
Allerdings wird für sie bereits ein Treppenabsatz zu einer unüberwindbaren Hürde. Der früheren Synchronschwimmerin werden tagtäglich die Grenzen aufgezeigt, die an manchen Tagen ohnehin nur schwer zu begreifen sind. „Es ist nicht immer leicht“, gesteht sie schüchtern lächelnd. „Ich würde mich gerne selbst um alles kümmern.“ Aber ohne fremde Hilfe ist es der jungen Frau unmöglich, die Schule zu besuchen oder sich mit Freunden zu treffen.
Vanessa Sahinovic: "Mein Ziel ist es, aus dem Rollstuhl aufzustehen"
Die größte Barriere zur Welt nach draußen bilden die gut zwei Dutzend Stufen vom zweiten Stock in den engen Innenhof. Seit dem 11. Juni 2015 ist Sahinovic auf einen Rollstuhl angewiesen. Für sie ein ständiger, manchmal aber verhasster Begleiter. „Eigentlich bin ich froh, dass sie noch lebt“, murmelt Mama Azra Sahinovic mit Tränen in den Augen.
Ein tonnenschwerer Bus raste an diesem Juni-Tag in die Gruppe der österreichischen Synchronschwimmerinnen. Sahinovic, die mit dem ÖOC (Österreichisches Olympisches Comité) bei den Europaspielen in Baku (Aserbaidschan) teilgenommen hatte, traf es am schlimmsten. „Ich lag unter dem Bus und dachte, ich muss jetzt sterben.“ 20 Meter wurde sie mitgeschleift, zahlreiche ihrer Knochen zermalmt. Später gab der Fahrer, er sitzt im Gefängnis, an, Brems- und Gaspedal verwechselt zu haben.
Die junge Niederösterreicherin erlangte nach einer Notoperation das Bewusstsein und hatte eine böse Vorahnung: „Mama, ich will nicht in den Rollstuhl“, presste sie unter größten Schmerzen hervor. Neben den 15 Frakturen, die ihre Krankenakte aufgelistet hatte, war auch ihr zwölfter Brustwirbel gebrochen und beschädigte das Rückenmark. Plötzlich war nichts mehr so wie früher. Medizinisch betrachtet gilt Sahinovic als neurologische Patientin. Seit dem Unfall ist sie vom Bauchnabel abwärts gelähmt. Doch damit nicht genug.
Für die Familie begann ein Spießrutenlauf. Anders als im Fall von Kira Grünberg oder Lukas Müller wird der Unfall vorerst als Freizeitunfall eingestuft. Zwar durfte auch Sahinovic ins Reha-Zentrum nach Bad Häring, doch für Behandlungen im deutschen Therapiezentrum Geerlofs musste die Familie selbst tief in die Tasche greifen. Auch weil Versprechungen nicht eingelöst worden sind. Das Land Aserbaidschan, Veranstalter der Europaspiele, hatte zwar sofort eine großzügige Zahlung zugesagt, bis dato ist jedoch nicht ein Cent geflossen.
Entschädigungen gab es bisher nur aus Österreich. Die Reiseversicherung des ÖOC hat die Höchstsumme von 600.000 Euro vollständig ausbezahlt. Weiters wurden aus dem ÖOC-Hilfsfonds 50.000 Euro überwiesen, plus finanzielle Unterstützungen aus diversen Charity-Projekten. Therapiekosten, die mehrere Hundert Euro pro Tag verschlingen, relativieren die Summen. Auch Azra Sahinovic will sich nicht so schnell zufriedengeben und kämpft weiter für ihre Tochter: „Wir hoffen auf Geld aus Aserbaidschan. Alleine die Therapiekosten sind bisher auf 80.000 Euro gestiegen. Derzeit bauen wir ein behindertengerechtes Haus für Vanessa“, rechnet die gebürtige Bosnierin vor.
Vanessa Sahinovic selbst hört bei solchen Dingen nicht aufmerksam zu, sondern blickt oft gedankenverloren aus dem Fenster. In der Schule ist das anders. Dort gilt ihrem Lieblingsfach Biologie die größte Aufmerksamkeit. Auch für Fremdsprachen interessiere sie sich. „Spanisch, Englisch und natürlich kann ich auch Bosnisch.“ Ob sie studieren will oder einen Berufswunsch hat, kann die 16-Jährige noch nicht beantworten. Ihre Träume ähneln jenen vieler Gleichaltriger: „Freund, Familie – sowas halt.“
Sie will die Hoffnung nicht aufgeben, irgendwann wieder gehen zu können. „Hin und wieder spüre ich ein Kribbeln in den Beinen. So wie jetzt gerade. Das ist ein gutes Zeichen, oder Mama?“ Sie erntet ein Schulterzucken. Die Ärzte meinen, es seien Anzeichen von inkompletter Querschnittslähmung. „Keiner will mir falsche Versprechungen machen.“ Auch nicht im baden-württembergischen Pforzheim, wo das Therapiezentrum Geerlofs steht. Dort wird sie nicht wie eine Querschnittsgelähmte therapiert. „Es gibt dort einen Lokomaten. Das ist so eine Art Laufband mit Gestell, wo ich angegurtet werde. In einer Stunde bin ich schon einmal 2600 Meter gegangen. Das ist, glaube ich Rekord“, sagt sie mit strahlenden Augen. Es scheint ein Ort zu sein, der sie aus dem grauen Alltag fliehen lässt. Vielleicht hilft er ihr, dass die Wunden irgendwann einmal verheilen. Nicht nur die an der Wirbelsäule.