Ob sich der Körper noch erinnern kann? Wie lange halten sich in Jugendjahren antrainierte Bewegungsmuster? Die ernüchternde Antwort: 50 Meter – dann ist der Ofen aus. Das Problem: Es fehlen noch 150 Meter bis ins Ziel.
Am Plan: ein Vergleich mit der Profischwimmerin über 200 Meter Lagen. Heißt: In einem Stück von jeder Lage – Delfin, Rücken, Brust und Kraul – 50 Meter. Die Konkurrenz: übermächtig. Jördis Steinegger (33) ist hundertundirgendwas-fache Staatsmeisterin, hat kübelweise Goldmedaillen von Landesmeisterschaften daheim, ist Militärweltmeisterin und wird über die längere Lagen-Strecke (400 Meter) bei Olympia in Rio starten.
50.000 Trainingskilometer
Seit sie mit zehn Jahren leistungsmäßig zu schwimmen begonnen hat, hat sie rund 50.000 Trainingskilometer auf ihren „Körpertacho“ gespult. Dass ich bei den ersten 5000 mit dabei war, hilft mir in diesem Augenblick gar nichts mehr. Zwar haben sich die 50 Meter Delfin überraschend geschmeidig angefühlt (locker ist diese Lage nie) – nach der Wende aber fühlt sich mein Körper an, wie eine Luftmatratze, bei der jemand den Stöpsel herausgezogen hat.
Dass Jördis da schon mehrere Köperlängen vor mir ist (würde sie Vollgas geben, wären es knapp zehn Sekunden), ist mein kleinsten Problem. Ich kämpfe mit dem Luftholen, mit der ruppigen Leine, an der ich bei jedem zweiten Zug entlang schramme und dem Umstand, dass die Arme unter Wasser nur zaghaft Druck aufbauen. So also fühlen sich zwanzig Jahre Abstinenz an: Nicht gut. Gar nicht gut.
Wie ein satter Schwamm
Und jetzt kommt erst der Wechsel auf die Brust-Lage. Zumindest das verbindet Jördis – wo ist sie eigentlich? – und mich: Wir mögen Brustschwimmen nicht. Brustschwimmen, so ätz(t)en Generationen von Schwimmern, die zu dieser technisch komplexesten Lage keine Liebesbeziehung aufbauen können, sei etwas für Thermenbesucher und Pensionisten.
Dass ich mich nach der Wende – ah da ist Jördis: mit mittlerweile gut 20 Sekunden Vorsprung kommt sie mir schon wieder entgegen – tatsächlich wie ein Opa fühle, sei’s drum. Kein Stoßimpuls mehr aus den Beintempi, kein Punsh mehr in den Armzügen. Meine Wasserlage gleicht mittlerweile der eines vollgesogenen Schwammes. Vielleicht haben sie die Hightech-Anzüge doch zu früh verboten, die für künstlichen Auftrieb und Fabelweltrekordzeiten gesorgt haben.
Kampf gegen das Ertrinken
Seit sechs Jahren müssen die Schwimmer wieder auf die teilweise in Nasa-Labors entwickelten Ganzkörperkunsthäute mit den optimalen Strömungs- und Körperspannungseigenschaften verzichten. Jördis Steinegger stört das nicht. Sie sei auch nach dieser Anzüge-Ära noch Bestzeiten geschwommen, und außerdem „sollte Schwimmen zu keiner Materialschlacht verkommen“. In meinem Fall ist es nach 150 Metern ohnehin schon ein Kampf gegen das Absaufen.
Aber jetzt kommen die abschließenden 50 Meter Kraul. Daran wird sich der müde Körper vielleicht noch erinnern können. Jetzt also noch einmal alles geben. Viel ist es nicht. Jördis muss am Ende gut 40 Sekunden auf mein „Gratuliere, war ein knappes Rennen!“ warten.
Klaus Höfler