Es gibt Personen, die (scherzhaft) darauf aufmerksam gemacht haben, dass die allererste SMS (ja SMS, nicht WhatsApp) im Dezember des Jahres 1992 gesendet wurde und daher vor zwei Wochen, als die Bengals die Las Vegas Raiders schlugen, das erste Mal in der Menschheitsgeschichte jemand über einen Cincinnati-Playoff-Sieg eine Kurznachricht versendet hat.
In Kansas City sieht es da ganz anders aus. Seitdem Quarterback Patrick Mahomes Regie in der Offensive führt, zählen die Chiefs in jeder Saison zu den Favoriten. In den vier Saisonen als Starter führte Mahomes sein Team zu einer Play-off-Bilanz von 8-2, wobei in jeder Saison das AFC Finale erreicht wurde. Und nur in seiner ersten Saison verlor Kansas City dieses Spiel. Im Gegensatz zu Mahomes haben die Bengals allerdings noch nie ein AFC Championship-Spiel verloren. In beiden ihrer Antritte ging das Team aus Ohio als Sieger vom Platz. In beiden Super Bowls (1981, 1988) setzte es dann eine Niederlage gegen die San Francisco 49ers. Kurios: Genau dieses Duell könnte es heuer geben, auch, wenn sowohl die Bengals als auch die 49ers als Underdogs gelten.
Denn zu Beginn der Saison hätten die meisten Experten Cincinnati nicht zugetraut, so weit zu kommen. Doch der Hype-Zug und den „Swag“, den das Team ausstrahlt, können sich nur noch wenige entziehen. Die meisten, die sich dagegen sträuben, haben sonntags wahrscheinlich meist die schwarz-goldenen Steelers-Farben an. Doch dazu mehr in Kürze.
Frischer, kräftiger Wind in Cincinnati
Der neue Star in Cincinnati (vielleicht in ganz Ohio – Entschuldigt, Cleveland Browns-Fans!) ist Joseph LeeBurrow. Die Fans der Bengals sehen in ihm ihre Version des Patrick Mahomes und hoffen, eine langwährende Freude mit ihm zu haben. Alteingesessene Fußball-Fans fragen sich manchmal, wie schnell sich wirklich das Blatt in einer professionellen Sportliga drehen kann und wie viel ein Mann oder eine kleine Handvoll Männer wirklich ausmachen. Die Bengals sind der aktuellste Beweis dafür. Die Saison 2019 schlossen sie noch als das schlechteste Team in der NFL ab und wurden aber dafür mit dem Top-Draftpick des Jahre 2020 „belohnt“. Nachdem Joe Burrow im College die LSU Tigers ungeschlagen zum Titel geführt hatte, pickten ihn die Bengals an der ersten Stelle im Draft. In seinen zwei Jahren in Louisiana musste der QB nur drei Mal als Verlierer vom Platz gehen – aber nie im Playoff. Diese Serie hält bisher auch in der NFL an. In Runde zwei des Drafts 2020 holt sich die Bengals dann Wide Receiver Tee Higgins, in Runde drei Linebacker Logan Wilson – beide sind nun Starter im Team.
Vor, während und auch seit vergangen Draft laufen die Diskussionen, ob die Bengals WR Ja’Maar Chase oder lieber OT Penei Sewell picken (hätten) sollen. Die Verantwortlichen entschieden sich im April 2021 für die Lieblings-Anspielstation von Burrow im College. Und Ja’Maar Chase schlug richtig ein. Nicht nur brach er viele der wichtigsten Rookie-Rekorde als Receiver, sondern hält nun sogar mit 1455 Yards den Rekord für Receiving Yards in einer Saison in der Bengals-Geschichte. Mit 81 gefangenen Pässen und 13 Touchdowns avancierte er zu einem der besseren Wide Receiver in der Liga.
Nun haben die Bengals Fans allen Grund zu Freude: Mit den bereits erwähnten QB Burrow (25 Jahre alt), WR Higgins (22) und WR Chase (21) zählt noch Running Back Joe Mixon (25) zum jungen Kern der Offensive. Kann Cincinnati alle auch über ihren Rookie-Vertrag hinaus halten, haben sie ein starkes Fundament, das in der NFL seinesgleichen sucht. Die Bengals sind sogar die ersten in der NFL-Geschichte, die vier Spieler mit über 4000 Passing Yards bzw. 1000 Rushing/Receiving Yards haben, während alle 25 oder jünger sind. Und gerade Joe Mixon steht wohl bestens für die Entwicklung der Cincinnati Bengals vom Bad-Boy-Team zu einem Team, dem viele NFL-Fans gerne zuschauen.
Blick in die Bengals Vergangenheit
Cincinnati war berühmt-berüchtigt für ihre (über)harte Spielweise. Vor allem in Spielen gegen den Divisions-Rivalen Pittsburgh kochten die Emotionen und Gewaltausbrüche schnell über. Verrufene Galionsfigur der „alten“ Bengals war Vontaze Burfict. Der mittlerweile pensionierte Linebacker hat insgesamt 22 Spiele wegen Suspendierungen aussetzen müssen - das ist fast ein Fünftel seiner gesamten Karriere! Aus reiner Geld-Sicht kostete ihm das um die 4,6 Millionen Dollar (Anm.: Spieler bekommen ihr Basis-Gehalt pro Spiel) und musste zusätzlich 411.000 Dollar Strafe an die NFL zahlen. Randnotiz: Klammert man nur die Spiele gegen die verhassten Steelers aus, hätte sich Burfict zirka 1,55 Mio. Dollar der 5 Millionen gespart.
Mit diesem Bild der verrufenen Bengals im Hinterkopf ätzten einige darüber, dass im Draft 2017 gerade die Bengals in Runde zwei den Running Back Joe Mixon aus Oklahoma auswählten. Manche Teams – darunter die New England Patriots, Miami Dolphins und Baltimore Ravens – machten bereits im Vorfeld klar, dass sie Mixon nicht wählen würden, obwohl er als einer der besten Running Backs im Draft gehandelt wurde. Der Besitzer der Patriots Robert Kraft meinte dazu: “Obwohl ich daran glaube, Spielern zweite Chancen und Möglichkeiten zur Wiedergutmachung zu geben, finde ich, in der NFL zu spielen ist ein Privileg, kein Recht. Für mich persönlich gilt, dass Männer dieses Privileg verlieren, wenn sie eine Vorgeschichte von Gewalt gegenüber Frauen haben.“
Was war passiert? Im Sommer nach der High School schlug Mixon einer Oklahoma-Studentin während eines ausartenden Streites ins Gesicht und brach ihr dabei vier Knochen. Im Dezember 2016 wurde das Video dazu sogar öffentlich. Vorausgegangen seien dem Übergriff rassistische Beleidigungen vonseiten einer Freundin der Frau ihm gegenüber. Nach anti-homosexuellen Aussagen seinerseits gerieten die Frau und Mixon in einem Restaurant aneinander, als sie ihn ohrfeigte, während er bereits wegging und er mit dem erwähnten Schlag ins Gesicht „antwortete“.
Im ersten Jahr auf der Universität von Oklahoma wurde es ihm daher verboten, Football zu spielen. Eine Exmatrikulation stand ebenso mehr als nur im Raum. Im Jahr 2015 durfte er dann doch wieder ran und zeigte, dass er am Platz mehr kann als abseits davon. Nach zwei guten Saisonen am College war der nächste logische Schritt, sich für den Draft verfügbar zu machen. Die NFL verbat ihm, am jährlichen NFL Scouting-Combine teilzunehmen. Nichtsdestotrotz wählte ihn Cincinnati an 48. Stelle aus.
Während aus absolut verständlichen Gründen viele noch immer damit hadern, Spieler mit einer derartigen Vorgeschichte in die NFL aufzunehmen, bewies Mixon den Bengals und der ganzen NFL, dass sie in ihm die richtige Wahl getroffen haben. In den vier Jahren erlief er insgesamt 4564 Yards mit 33 Touchdowns am Boden, während er Pässe für 1322 Yards und acht Touchdowns fing.
Was aber noch viel wichtiger ist: Nicht ein einziges Mal fiel Joe Mixon seit dem Draft abseits des Platzes negativ auf. Der Running Back ist auf gutem Wege, seinen Ruf zu ändern und das Image eines fragwürdigen Mannes abzustreifen - ganz im Sinne der "neuen" Bengals. Der Besitzer des Teams, Mike Brown, ist sich sicher, dass Mixon diese Vergangenheit hinter sich gelassen hat und sich in einen Menschen wandeln kann, auf den Cincinnati stolz sein kann.
Jetzt hat Mixon, zusammen mit dem gesamten Team, die Chance, seine Stadt stolz zu machen. Die jungen Wilden um ihn und Joe Burrow brachten einen kräftigen, frischen Wind in das Image der Franchise aus Ohio und wollen nun auch den NFL-Thron erklimmen. Eines haben sie aber jetzt schon erreicht: Eine zweite Chance wird manchmal wirklich auch sehr gut genutzt.
Marco Tilli