Orlando – ein Wort, ein Ort und vor allem ein Image: Disney World. „Wo Träume wahr werden“, steht über einer der Zufahrten zum gigantischen Freizeitkomplex in Zentral-Florida. Rechts und links neben der dreispurigen Straße grüßen Micky und Minnie Maus. Die Turmspitzen des berühmten Disney Castle über der Durchfahrt sowie Palmen runden das Bild ab. Seit vergangener Woche sind die beliebten Themenparks nach 118 Tagen Coronapause wieder geöffnet. Doch sie sind nicht die einzige Attraktion in Orlando. Für Magie sorgen auch die Stars der Basketball-Profi-Liga NBA. Allerdings sind LeBron James und Kollegen nicht so nahbar wie Donald Duck und Co. Im Gegenteil. Die Basketballer haben in Disney World ihre eigene abgeschottete Blase.
Dort will die NBA ab Donnerstag mit 22 Teams ihre – am 11. März unterbrochene – Saison fortsetzen und spätestens am 13. Oktober den Meister küren. Ein Vorhaben, das ebenso heroisch wie hanebüchen anmutet. Denn Florida ist seit Wochen das Epizentrum der Corona-Pandemie. Nirgendwo in den USA gibt es so viele Neu-Infektionen wie im Sunshine State. Der Tagesrekord, aufgestellt am 12. Juli, liegt bei 15.300 Fällen.
Nun ist die Basketball-Blase zwar nicht mit dem Alltag der Floridians vergleichbar. Spieler und Trainer werden täglich getestet, die Sicherheitsbestimmungen sind strikt. Dennoch sagt es einiges aus, wenn mit Charles Barkley eines von Amerikas bekanntesten Basketball-Gesichtern meint: „So wie die Zahlen in die Höhe schießen, ist Florida der schlimmste Ort der Welt. Ich denke, wir haben keine Chance, diese Saison zu Ende zu bringen.“
Die Frage ist ohnehin, warum die Ligen gerade jetzt ihren Neustart wagen? Im März genügte ein positiver Covid-19-Test des Basketballers Rudy Gobert, um den Spielbetrieb in der NBA sowie der NHL stillzulegen. Die Major League Baseball (MLB) stoppte umgehend ihre Saisonvorbereitung.
Nun wird in den USA täglich bei Zehntausenden – vorigen Donnerstag waren es mehr als 77.000 – das Coronavirus festgestellt. Und trotzdem drängt der Sport auf ein Comeback. Die MLB will heute ihre von 162 auf 60 Runden reduzierte Saison beginnen, die NHL ab dem 1. August in Kanada die Play-offs ausspielen. Und die NFL-Teams starten mit der Vorbereitung. „Wir bringen den Sport zurück, drücken die Daumen und hoffen, dass alles gut geht“, sagt Neel Gandhi, Epidemiologe der Emory-Universität in Atlanta – und wirkt bei diesen Worten ein wenig ratlos.
Ganz anders reagieren die Fans. Eine Umfrage des Fernsehsenders ESPN hat ergeben, dass 78 Prozent der 1003 Befragten für eine Fortsetzung des Spielbetriebs sind – obwohl Zuschauer in keiner Liga Zutritt zur Spielstätte haben. 59 Prozent betonten, „es gar nicht abwarten zu können“ und „so viel Sport wie möglich im Fernsehen“ schauen zu wollen. Dies ist durchaus verständlich. Seit Monaten haben sie von Amerika aus neidisch Richtung Europa geschaut, wo die Fußballer in Deutschland Mitte Mai wieder loslegten und später fast alle anderen folgten.
Auch die US-Ligen haben genau hingeschaut, sich Gedanken gemacht, europäische Hygienekonzepte kopiert und eigene Gesundheitsauflagen konzipiert. Und sie haben viel Geld investiert, um durch den möglichen Abbruch oder Ausfall einer Saison Millionen- oder gar Milliarden-Verluste zu vermeiden. So lässt sich die NBA ihre Blase in Florida rund 150 Millionen Dollar kosten. „Die Leute wollen wissen, warum wir nicht in der Lage waren, den Sport früher zurückzubringen“, sagt Zachary Binney, Sport-Epidemiologe der Emory-Universität gegenüber der „New York Times“: „Weil wir das Virus nicht unter Kontrolle haben.“
Wen Binney mit „wir“ meint, ist klar: Donald Trump. Der US-Präsident hat den Kampf gegen Covid-19 nie ernst genommen. Die „Washington Post“ bezeichnet den Abstand der USA zu anderen Nationen als „unglaublich peinlich“.
Trump hat vor allem seine angestrebte Wiederwahl im November im Blick – anstatt seinen Fokus auf das Virus zu richten. Erst jetzt, da mehr als vier Millionen Landsleute infiziert und mehr als 140.000 gestorben sind, empfahl er zu Wochenbeginn, „eine Maske zu tragen“ und bezeichnete dies gar als „patriotisch“.
Bereits im April hatte Trump seine Gouverneure dazu gedrängt, ihre Bundesstaaten nach dem Lockdown wieder zu öffnen – obwohl viele nicht die vom Weißen Haus vorgegebenen Richtwerte erfüllten. Zwei der Trump-treuesten Amtsinhaber sind Floridas Gouverneur Ron DeSantis und Gregg Abbott in Texas – und ihre Länder nun Corona-Hotspots. „Der Sport versucht ein Comeback. Aber das Virus gewinnt immer noch“, schreibt das „Wall Street Journal“. Noch deutlicher titelt das Wirtschaftsmagazin „Forbes“: „Amerika, du verdienst derzeit einfach keinen Sport.“
Zurück nach Orlando und Disney World: Es bleibt abzuwarten, ob es der Ort ist, „wo Träume wahr werden“. Oder doch ein einziger Albtraum.
Heiko Oldörp aus Orlando