Vergangenen März waren die Schachspieler jene Sportler, die dem Corona-Virus am längsten trotzten. Erst als Russland ein Flugverbot ankündigte wurde das Kandidatenturnier in Jekaterinburg, bei dem der nächste Herausforderer von Weltmeister Magnus Carlsen ermittelt wird, am 26. März 2020 nach sieben von 14 Runden abgebrochen, von der FIDE, dem Welt-Schachverband, ein Flugzeug gechartert und die acht Kandidaten in ihre Heimatländer geflogen.
Seit Montag wird in Jekaterinburg wieder gespielt. Und es geht ordentlich zur Sache. Drei geopferte Bauern und eine geopferte Figur brachten Carlsens letzten Herausforderer Fabiano Caruana (USA) gegen Maxime Vachier-Lagrave (FRA) auf die Siegerstraße. Der Franzose, zu diesem Zeitpunkt noch Führender des Turniers, löste aber alle Probleme der komplizierten Stellung - und wickelte dann doch in ein schlechtes Endspiel ab, das verloren ging. "Die Probleme, die er hatte, hätten am Brett nicht viele gelöst. Danach hat er aber zu früh entspannt", erklärt Markus Ragger, Österreichs bester Schachspieler, der das Kandidatenturnier - auch aus beruflichen Gründen - intensiv verfolgt.
Vachier-Lagraves hat trotz der Niederlage noch die Chance auf die Qualifikation, auch Caruana ist nach dem Sieg wieder im Rennen. Und der Holländer Anish Giri hält ebenfalls bei 5,5 Punkten. Alle drei jagen aber den Russen Jan Nepomnjaschtschi, der vier Runden vor Schluss (nach einem unerwartet leichten Sieg gegen Landsmann Kirill Alekseenko, der früh in der Eröffnung fehlgriff) bereits einen ganzen Punkt führt.
6,5 Punkte nach 10 Partien haben in der Vergangenheit stets für die Qualifikation gereicht. "Aber es war auch in der Vergangenheit noch spannend", sagt Ragger - und verspricht sich auch heuer Spannung bis zum Schluss.
"Hätte Caruana den Punkt Vorsprung, würde ich sagen, die Entscheidung ist gefallen", sagt Ragger. "Nepo ist aber längst nicht so stabil. Wenn er eine direkte verliert, schaut es schlecht für ihn aus." Und "Direkte" hat Nepomnjaschtschi noch zwei. Gegen Vachier-Lagrave und Caruana spielt der Russe noch mit Weiß, gegen den Amerikaner bereits heute. Die Partie hat vorentscheidenden Charakter: Siegt Caruana ist er bestens Richtung Weltmeisterschaft unterwegs, siegt Nepomnjaschtschi ist ihm der Sieg kaum noch zu nehmen.
Die spannende Frage: Wieviel Risiko sind Caruana und Vachier-Lagrave bereit mit Schwarz zu gehen? Und: Kann Nepomnjaschtschi seine Form halten? Schon öfter war zu beobachten, dass der Russe im Laufe eines Turniers stark nachlässt. "Ihm ist die Unterbrechung nach sieben Runden sicher zugutegekommen", sagt Ragger. "Vielleicht investiert er mehr Energie, vielleicht wird er nervöser."
Ganz und gar nicht nervös ist der Weltmeister. Carlsen kann sich zurücklehnen und beobachtet das Geschehen in Jekaterinburg. Und er beobachtet nicht nur, er tritt auch als Kommentator auf. Auf chess24.com erklärt der Norweger auf Englisch, was sein künftiger Kontrahent am Brett fabriziert.