Die Medaille war eine taktische Meisterleistung von Anna Kiesenhofer gepaart mit großartigen fahrerischen Qualitäten. Schon bei Kilometer Null setzte die einzige heimische Dame im Peloton eine Attacke und fuhr mit der Fluchtgruppe bis zu zehn Minuten Vorsprung heraus. Im Feld der großen Favoritinnen wurden die Qualitäten der Fahrerin von Cookina Graz unterschätzt und vorne zollten einige Wegbegleiterinnen dem Tempo Tribut.
Zufallsprodukt war das ganze sicher nicht. "Wenn sich Anna etwas in den Kopf setzt, dann zieht sie das durch", sagt ihre Teamkollegin Sarah Bärnthaler, "und wenn sie etwas macht, dann ist das stets durchdacht und sie überlässt nichts dem Zufall." Als Mathematikerin verdient sich die gebürtige Niederösterreicherin mittlerweile ihr Geld an der Universität von Lausanne und hatte mit ihrer Rad-Karriere schon beinahe abgeschlossen. Die sportliche Konzentration galt in den vergangenen Jahren mehr dem Zeitfahren und Bergrennen. Ein Jahr versuchte sie sich als Berufsradfahrerin. Im Jahr 2017 hatte sie einen Vertrag bei der belgischen Equipe Lotto Soudal Ladies.
So war auch die Attacke auf dem letzten brutalen Anstieg des Kagosaka-Passes ein toller Kniff. Damit zerlegte sie ihre polnische und israelische Kolleginnen Anna Plichta und Omer Shapira und war von da an solo unterwegs. In der Abfahrt und dem kupierten Gelände des Finales konnte sie ihre Qualitäten als Zeitfahrerin perfekt ausspielen und hielt die Gruppe der Profis auf Abstand. Am Ende durfte sie ihren Erfolg auf der Zielgeraden des Fuji Speedways auch auskosten – der Vorsprung auf die herannahenden Stars war noch groß genug. Am Ende distanzierte sie Annemiek van Vleuten um mehr als eine Minute. Die Niederländerin dachte bei der Zieleinfahrt noch, das Rennen gewonnen zu haben. Bronze ging an die Italienerin Elisa Longo Borghini.
Kiesenhofer konnte ihren Sieg auch nach der Siegerehrung nicht fassen: "Es fühlt sich unglaublich an. Ich konnte es nicht glauben. Selbst als ich die Ziellinie überquert habe, habe ich mir gedacht: Ist es wirklich aus? Muss ich noch weiterfahren? Ich hatte die Attacke bei Kilometer null geplant und war froh, in Führung gehen zu können. Davon konnte ich nicht ausgehen, da ich nicht gut darin bin, im Peloton zu fahren. Ich war froh, dass ich nicht zu nervös war, bin einfach drauflos gefahren. In der Ausreißergruppe haben wir mehr oder weniger zusammengearbeitet - das war hilfreich. Ich habe gemerkt, dass ich am stärksten in der Gruppe war, und wusste, ich habe den Anstieg vor der langen Abfahrt. Ich bin ziemlich gut bei Abfahrten, dann war es wie ein Zeitfahren bis ins Ziel."
Somit gelang Kiesenhofer, die mit Lob und Glückwünschen überschüttet wird, was Christiane Soeder-Richter bei den Spielen 2008 um Haaresbreite nicht geschafft hat. Die ehemalige Rennfahrerin aus Graz musste sich mit Blech zufriedengeben. Vier Sekunden fehlten ihr damals auf das Podest.
Für Österreich war es die zweite Goldmedaille im Radsport bei den Olympischen Spielen. 1896 siegte Adolf Schmal auf der Bahn. Damals holte er auch noch zwei Bronzene auf den Holzleisten. Eine zweite Medaille bei diesen Spielen ist für Kiesenhofer allerdings nicht möglich. Im Zeitfahren hat sie keinen Startplatz. Das ÖOC jubelte erstmals seit den Spielen 2004 in Athen wieder über Gold bei Sommerspielen. Damals waren zuletzt die Tornado-Segler Roman Hagara und Hans-Peter Steinacher erfolgreich, drei Tage zuvor hatte Triathletin Kate Allen Gold geholt.