"Es gibt sehr große Hinterlassenschaften“, sagt Yuriko Koike, die Gouverneurin der japanischen Hauptstadt. „Durch die Pandemie erleben viele Menschen schwierige Zeiten. Diese Spiele bereiten ihnen etwas Freude.“ Außerdem seien da andere Dinge. Tokio, die größte Metropole der Welt, sei tagelang durch Offsetting CO2-neutral geworden. Und das durch Wasserstoff versorgte olympische Dorf weise den Weg ins Leben der Zukunft.
So löblich diese klimapolitischen Avancen auch sind: Das Gesamtbild von „Tokyo 2020“, wie die Spiele trotz pandemiebedingter Verschiebung um ein Jahr hießen, werden sie kaum prägen können. Diese Spiele wollten viel mehr sein als klimapolitischer Fortschritt. Doch von jenen Versprechen, die im Vorfeld am lautesten verkündet worden waren, ist mit Beginn der Pandemie zuerst nur noch leise, und dann gar nicht mehr gesprochen worden.
Als im September 2013 der Zuschlag erteilt wurde, sagte der damals regierende Premierminister Shinzo Abe zweieinhalb Jahre nach der Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe, der größten in der jüngeren Geschichte: „Einige von Ihnen mögen sich Sorgen machen wegen Fukushima. Aber lassen Sie mich Ihnen versichern: Die Situation ist unter Kontrolle.“ Die Spiele sollten „fukkou gorin“ werden, Spiele des Wiederaufbaus. Um die Erholung der zerstörten Gebiete zu symbolisieren, sollten in Fukushima Softball und Baseball stattfinden. Allerdings in Fukushima-Stadt, 60 Kilometer vom havarierten Atomkraftwerk entfernt. Dort, wo nichts wiederaufgebaut werden musste. Dagegen bleiben in der Küstenregion offiziell rund 40.000 Menschen weiter evakuiert, ganze Orte unbewohnbar.
Es war nicht die einzige Ankündigung, mit der man sich übernahm. Die Spiele sollten einen Wirtschaftsboom entfachen, zugleich keine Steuergelder kosten. Mit Beginn der Pandemie wurde von diesem Versprechen Abstand genommen. Ökonomen hatten schon vor der Pandemie kritisiert, dass nicht nur Kosten kleingerechnet, sondern auch die wirtschaftlichen Effekte aufgebläht worden waren. Ewiger Streitpunkt: Investitionen in nachhaltige Infrastruktur, die die Olympiaveranstalter nicht den Spielen zurechnen. Bei den Effekten hatte man diverse indirekte Posten wie den Ausbau des 5G-Netzwerks oder Investitionen in Wasserstoff als Energieträger mit einberechnet – die von Olympia eigentlich unabhängig sind. So kam man auf Effekte von 32 Milliarden US-Dollar. Katsuhiro Miyamoto, Wirtschaftsprofessor an der Kansai Universität in Osaka, hatte noch vor der Pandemie errechnet, dass die direkten Erträge nur ein Viertel dessen waren.
Wobei sich die Erlöse durch die pandemiebedingte Entscheidung, Besucher aus dem Ausland und auch Zuschauer in den Stadien zu verbieten, weiter verringerten. Die Kosten dagegen stiegen deutlich. Durch Olympische Spiele unter Isolationsbedingungen blieb auch der ersehnte Austausch auf der Strecke, durch den die japanische Bevölkerung neue kulturelle Einflüsse aus aller Welt hätte erleben können.
Allerdings waren große Teile des Landes ohnehin nicht mehr in Stimmung. Seit Beginn der Pandemie war schließlich eine große Mehrheit der japanischen Gesellschaft gegen die Austragung von „Tokyo 2020“. Die Spiele schienen zu teuer und zu gefährlich. Zwar liegt Yuriko Koike mit ihrer Einschätzung, die Spiele hätten den Menschen Freude gebracht, nicht falsch. Die Einschaltquoten waren hoch, das sehr erfolgreiche Abschneiden der japanischen Athleten hat die Stimmung verbessert. Aber die Sorge, dass sich durch das Sportevent die Pandemie verschlimmert, ist durch Umfragen ebenso gut dokumentiert. Gastgeberin Koike und das OK betonen daher, dass die Olympiablase, mit der die Olympiateilnehmer von der Bevölkerung isoliert waren, gehalten habe. Hunderte Ansteckungen innerhalb hätten mit dem explosionsartigen Infektionsanstieg außerhalb der Blase nichts zu tun.
Kritiker geben zu bedenken, schon die bloße Durchführung der Spiele habe ein fatales Signal an die Bevölkerung gesendet: dass die Situation doch nicht ganz so schlimm sei. Wie die Zusammenhänge im Infektionsgeschehen genau sind, wird noch weiter untersucht werden. Gouverneurin Koike widerspricht: „Wir haben die Spiele vor leeren Rängen durchführen müssen. Das sendet doch eine sehr deutliche Botschaft.“ Offiziell sind Olympische Spiele ein Ereignis, das Menschen begeistern soll. Aber in der Gastgeberstadt musste man oft gegen Begeisterung arbeiten, ansonsten lauerte ja Infektionsgefahr.
Für das IOC waren die Spiele aber so oder so ein voller Erfolg. Präsident Thomas Bach erklärte, dass keine der Befürchtungen eingetreten sei. Der Ablauf war reibungslos, die Helfer freundlich, die Spiele wurden nicht zum Superspreader. Zwar kam es nicht zur Vermischung, doch wurde der Beweis angetreten, dass man auch während einer Pandemie Spiele abhalten kann. Und eines war „Tokyo 2020“ jedenfalls für alle: unvergesslich. Das hofft man nun auch für Paris – mit Zuschauern.
Felix Lill aus Tokio