"Dieses Licht darf noch nicht erlöschen!", sagt eine warme Stimme aus dem Off. Es ist der 24. Juli 2020, jener Tag, an dem „Tokyo 2020“ eigentlich starten sollte. Untermalt von sanften Pianoklängen zeigt der damals veröffentlichte Werbefilm Bilder leerer Stadien und einer menschenverlassenen Metropole: „Die Zukunft, die wir für selbstverständlich hielten, hat sich über Nacht in etwas ganz anderes verwandelt.“ Und kurz bevor Rikako Ikee dann ins dunkle Tokioter Nationalstadion schreitet, versichert sie dem Publikum: „Ich verstehe das. Denn ich habe das Gleiche schon erlebt.“
In der japanischen Öffentlichkeit gibt es wenige Personen, vielleicht keine weitere, die so eine Botschaft rüberbringen könnte, ohne die Menschen im Land zu provozieren. Inmitten der Pandemie sind die Olympischen Spiele trotz vieler japanischer Medaillenerfolge weiterhin kontrovers. Wenn Premierminister Yoshihide Suga behauptet, „Tokyo 2020“ würde „den Sieg der Menschheit über die Pandemie markieren“, ist auch jetzt kaum jemand überzeugt.
Die Veranstalter aber ließen sich von ihrem Plan, Olympia durchzuziehen, partout nicht abbringen. Und für dieses „Trotzdem“ steht außer sturen Politikern, Sponsoren und Sportfunktionieren wohl nur eine Person im Land: die 21-jährige Schwimmerin Rikako Ikee. Dabei ist ihr Vorteil im Gegensatz zu den Olympiaverantwortlichen, dass man der jungen Frau nicht so recht böse sein kann. In der japanischen Öffentlichkeit nährt sie vielmehr Mitgefühl, Ehrfurcht, Bewunderung. Genau das, was die Olympischen Spiele beim Publikum rauskitzeln wollen.
Am Sonntag zeigte sich genau dies im Aquatics Centre, wo die Schwimmwettbewerbe stattfinden. Rikako Ikee war mit der Staffel über 4x100 Meter Lagen bis ins Finale gekommen, wo Platz acht heraussprang. Aber das war nebensächlich. Denn dass diese Frau es überhaupt noch einmal schaffen würde, ins Becken zu steigen, war lange unklar gewesen. Nun feiern japanische Medien, und am Sonntagmittag auch schon die mit Athleten und Offiziellen gut gefüllte Halle, sie als die moralische Siegerin des Rennens, vielleicht der ganzen Spiele.
Vor der Pandemie war der Name Rikako Ikee nur Schwimmfans und Sportpatrioten ein Begriff. Mit 16 Jahren gab sie bei den Spielen von Rio ihr Debüt auf der großen internationalen Bühne, ging damals noch in der Masse anderer Stars unter. Daheim hielt Ikee aber schon den Landesrekord über 100 Meter Delfin, war außerdem Juniorenweltmeisterin auf 50 und 100 Meter Delfin.
Zwei Jahre nach Rio, bei den Asian Games 2018 in Jakarta, gelang ihr der Durchbruch. Mit sechs Goldmedaillen gewann Ikee mehr als jede Athletin in der Turniergeschichte. Die japanische Öffentlichkeit sah sie groß bebildert in den Tageszeitungen, aber auch die Nachrichtenagentur Reuters wurde auf sie aufmerksam. Die Prognose für Tokio lautete: „Ikee wird wohl eines der Gesichter der Spiele werden.“ Wobei es hier noch um das einst geplante Startdatum am 24. Juli 2020 ging.
Dass daraus nichts mehr werden würde, dämmerte ihr Anfang 2019. Rikako Ikee, damals gerade Schulabgängerin, war auf einem Trainingslager in Australien, als ihr plötzlich übel wurde. Die Einheit im Becken brach sie ab, reiste zurück nach Hause, um sich in Tokio untersuchen zu lassen. Wenig später richtete sie sich an die Öffentlichkeit: „Es fällt mir noch schwer, es zu glauben. Mit einer Behandlung kann man sich von dieser Krankheit aber erholen.“ Die Diagnose lautete Leukämie. Statt dem Traum von Olympia plagte sie plötzlich der Albtraum von einem jungen Tod.
Über ihre Website empfing sie Fanpost, schnell erreichten sie mehr als eine Millionen Botschaften. Ikee selbst zog sich aber für ein Jahr lang aus dem öffentlichen Leben zurück. Als die Schwimmerin im Februar 2020 wieder ihr erstes Interview gab, erzählte sie dem Fernsehsender TV von der Zeit ihrer Therapie: „Geräusche konnte ich nicht mehr ertragen, Appetit hatte ich auch keinen und der Fernseher nervte mich.“ Sie habe sterben wollen. Den Mut zum Kampf konnte sie nur aufbringen, indem andere ihr versicherten, sie könne es schaffen.
Im März 2020 aber zeigte sich die junge Frau plötzlich mit einem Lächeln. Über Instagram posierte Ikee mit Victory-Pose – erstmals wieder im Schwimmbad. „Ich fühle mich ausgezeichnet.“ Dem gesamten Krankenpersonal in ganz Japan sprach sie ihren Dank aus. Denn das hatte ja mittlerweile besonders viel zu tun. Im selben Monat verkündete die Regierung, nachdem sie das Coronavirus zuvor auf die leichte Schulter genommen und an den Olympiaplänen zunächst trotzdem festgehalten hatte, die einjährige Verschiebung der Spiele auf Sommer 2021. Die Pandemie begann auch in Japan um sich zu greifen.
Erst durch diese Verschiebung konnte sich Rikako Ikee, die das Jahr 2020 in Krebstherapie verbracht hat, für die Olympischen Spiele qualifizieren. Es waren zwar nur die gemischte und die weibliche Lagenstaffel, für die ihre erschwommenen Zeiten letztlich ausreichten. Aber schon damit verkörpert die Schwimmerin die Figur der Kämpferin, die sich von nichts beirren lässt. Und das will ja Olympia, laut seinem alten Motto, ohnehin ausdrücken: „Dabeisein ist alles.“ Was bei den Spielen in dieser Pandemie auch einen grotesken Beigeschmack hat, hörte sich am Sonntag einfach mal gut an. In den Worten von Rikako Ikee direkt nach ihrem achten Platz: „Ich bin einfach glücklich.“
Felix Lill