Anna Kiesenhofer überlässt nichts dem Zufall. Schon gar nicht in ihrem Brotberuf, aber auch nicht beim Radfahren. Als promovierte Mathematikerin ist sie keine Freundin von Unbekannten und löst Probleme lieber, bevor sie auftauchen. Das Training ist berechnet, selbst bei der Ernährung wird optimiert. „Trainingsplanung, Ernährungsplanung, das mache ich mir selbst. Im Rennen hatte ich den Support durch das Team. Das war klar und wichtig. Aber in der Vorbereitung bin ich mein eigener Chef.“ Für die Spiele hat sie sich geschunden, noch ein paar Kilogramm abgenommen.
„Ich habe mich zwei Jahre auf den heutigen Tag vorbereitet.“ Akribisch arbeitete sie an ihrer Form für das Straßenrennen, nachdem sie das Ticket für das Zeitfahren verpasst hatte. Sieben Sekunden fehlten ihr bei der WM in Yorkshire. Den Startplatz hat sie sich in der internen Qualifikation in Tirol für das Straßenrennen geholt. „Von einer Medaille zu träumen habe ich mich nicht getraut“, erzählt sie, „aber der ehrgeizige Teil in mir will immer gewinnen.“
Die notwendige Leistung für erfolgreiche Antritte in den steilen Rampen des Kagosaka-Passes zu berechnen, ist für sie eine leichte Aufgabe. Immerhin lehrt sie auf der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne. Ihr Fachgebiet sind seit vier Jahren die partiellen Differenzialgleichungen. Da wundert es nicht, dass sie neben fünf Staatsmeistertiteln auch noch ein paar andere trägt. An der TU Wien absolvierte sie die Bachelorstudien in Mathematik und Physik und ließ das Master-Studium in Cambridge sowie den Ph.D. (Doctor of Philosophy) in Mathematik in Barcelona folgen. In Spanien hat sie 2016 mit dem Radrennsport begonnen und die dortige Copa de Espana gewonnen.
"Man muss auch man selbst sein"
Das hat der 30-Jährigen auch die Welt der Berufsradfahrer eröffnet. Im Jahr 2017 stand sie bei einigen Nord-Rennen in Belgien und den Niederlanden im Salär von „Lotto Soudal“. Die Rennen beendete sie meist vorzeitig und auch die Verbindung wurde bald gelöst. Sie wechselte zurück ins Amateurlager und beschritt ihren eigenen Pfad. „Ich hoffe, dass ich andere inspiriere, ihren Weg zu gehen und nicht nur die traditionellen Wege im Radsport. Man muss auch man selbst sein.“
Auf dem Rad begibt sie sich nicht gerne in Situationen, die sie nicht kontrollieren kann – da kam die Flucht in Tokio gerade recht. „Im Nachhinein bin ich froh, dass ich im Straßenrennen gefahren bin und nicht im Einzelzeitfahren. Es ist eine Tatsache, dass das Straßenrennen unvorhersehbar ist. Man braucht den Glücksfaktor auf seiner Seite.“ Sie fährt nicht gerne Rad an Rad mit der Konkurrenz und liebt daher das Zeitfahren. Da ist sie selbstbestimmt, kann das Risiko besser einschätzen und minimieren. Daher wird sie auch keinen möglichen Profi-Vertrag mehr annehmen. „Nein. Es war ja meine Wahl, ich war schon einmal in einem Profiteam. Ich brauche meine Freiheit, meine Sachen selbst zu kontrollieren und die Rennen selbst auszusuchen.“
Dass Kiesenhofer nicht professionell fährt, sieht sie nicht als Nachteil. „Ich trainiere bestimmt nicht schlechter als die Profis und vom Umfang her wahrscheinlich nicht weniger. Aber sie müssen mehr Rennen fahren, regenerieren und reisen. Ich habe meinen Beruf und von dem her ist es für mich weniger stressig.“ Stressig waren die Stunden nach dem Sieg alle Mal. Rundfunkstationen und Medien aus aller Herren Länder drängten sich um die Olympiasiegerin. Es war so viel los, dass nicht einmal ihren Radcomputer auswerten und die Leistung analysieren konnte. Wie das ein Zahlenliebhaber schafft? Mit der Medaille um den Hals sagte sie lachend: „Ich habe heute schon viel geschafft.“