Ihr Olympiasieg ist ein paar Stunden alt. Haben Sie schon realisiert, was Sie da erreicht haben?
ANNA KIESENHOFER: Der Moment, in dem ich das genießen kann, wird erst sein, wenn ich daheim angekommen bin. Es ist recht stressig, aber schön langsam begreife ich es. Im Moment setzt die Müdigkeit ein nach einer ursprünglich Rieseneuphorie.
Wie schafft man so einen Kraftakt?
Mit viel Vorbereitung. Und natürlich Glück, das man bei einem Straßenrennen braucht.
Sie haben gesagt, dass Sie es nicht glauben konnten, als Sie über der Ziellinie fuhren, dass das Rennen aus ist. Wann kam dann dieser Moment?
Hundertprozentig sicher war ich nicht. Ich habe mich umgeschaut und gedacht, 'ach, ja wirklich'. Dann habe ich es schön langsam realisiert.
Sie sind selbst das Mastermind hinter Ihren Erfolgen, lautete ein erster Kommentar. Erklären Sie das bitte näher?
Ich habe schon emotionalen Support. Von meinem Freund, meiner Familie. Ansonsten habe ich niemand Konkretes. Trainingsplanung, Ernährungsplanung, das mache ich mir selbst. Im Rennen hatte ich den Support durch das Team. Das war klar und wichtig. Aber in der Vorbereitung bin ich mein eigener Chef.
Könnte sich das nun ändern?
Nein. Es war ja meine Wahl, ich war schon einmal in einem Profiteam. Ich brauche meine Freiheit, meine Sachen selbst zu kontrollieren und die Rennen selbst auszusuchen.
Hat es geholfen, dass Sie Mathematikerin sind? Haben Sie im Kopf gerechnet, wieviel Sie rausnehmen können, dass es sich am Ende noch ausgeht?
Die große Unbekannte ist das Tempo der anderen hinten. Ich kann rechnen, wie schnell ich sein kann, weiß aber nie, wie schnell die anderen sind. Ich habe Simulationen gemacht mit Leistung, wie lange ich brauche, um die Verpflegung einzuteilen. Aber man weiß es ja nie vorher.
Was ist es für ein Zeichen, wenn man als Teilzeitsportlerin Olympiagold gewinnt: Dass man alles schaffen kann?
Das klingt romantisch und schön, aber ich bin schon realistisch. Man kann nicht alles schaffen, es braucht Gegebenheiten. Ich kann nicht fliegen, bin kein Vogel. Es gibt Grenzen des Möglichen. Aber man kann viel rausholen mit Geduld und Hingabe.
Ihrer Nominierung für Olympia gingen Diskussionen voraus. Wie denken Sie jetzt darüber?
Es ist eine gewisse Genugtuung. Die Olympia-Quali ist ein kompliziertes Thema, da gibt es immer verschiedene Meinungen. Jeder verdient es in einer Form. Ich bin froh, dass ich hinfahren durfte.
Und wie sehen Sie im Nachhinein ihre Ansage, die da lautete: Wenn ich tauschen könnte, wäre mir das Einzelzeitfahren lieber.
Im Nachhinein bin ich froh, dass ich im Straßenrennen gefahren bin und nicht im Einzelzeitfahren. Es ist eine Tatsache, dass das Straßenrennen unvorhersehbar ist. Man braucht den Glücksfaktor auf seiner Seite.
Scheinbar hatten Sie nicht viele auf der Rechnung, die Niederländerin Annemiek van Vleuten hat nicht einmal mitbekommen, dass Sie vor ihr waren.
Es ist cool als Überraschungssiegerin. Es war mein Vorteil, weil wenn ein Star sich auf Flucht begibt, hat er andere Nationen, die einen jagen. Aber bei mir dachten sie wohl: Die kennt man nicht, die ist schlecht.
Wie hat Ihre Familie reagiert?
Meine Familie ist nicht so eine Radsportfamilie, die kennt sich nicht so aus. Meine Mama will, dass ich gesund ins Ziel komme. Ich weiß nicht, ob sie das einordnen kann. Ist auch egal, Hauptsache ich bin gesund, dann ist sie glücklich. Jetzt will ich noch heimkommen, bevor meine Familie in den Urlaub fährt.
Birgit Egarter/APA