Während Anna Kiesenhofer nach ihrem Sensationssieg auf dem Boden des Fuji Speedways lag und nach Luft rang, fuhr ihre erste Verfolgerin über die Ziellinie und riss die Arme in die Höhe. Das ist selten zu sehen, dass zweitplatzierte Fahrer im Radsport die Hände vom Lenker nehmen und jubeln. Doch Annemiek van Vleuten ließ sich richtig feiern. Bei den Betreuern der Niederländer brach bei ihrer Ankunft aber nicht so eine unfassbare Stimmung aus wie bei der mehrfachen Weltmeisterin, die sich über ihre "Goldene" ausgelassen freute.
Dass sie "nur" Zweite geworden ist und nicht alle Fahrerinnen aus der Fluchtgruppe gestellt wurden, ist ihr vollkommen entgangen und wurde ihr dann schonungslos mitgeteilt. "Ich dachte, ich hätte Gold", gestand sie später. "Wir dachten, wir machen alles richtig. Wir haben die Polin und die Israelin eingeholt und dachten, wir würden um die Goldmedaille fahren. Ich denke nicht, dass wir sie (Kiesenhofer, Anm.) unterschätzt haben. Ich kenne sie nicht. Was kann man falsch einschätzen, wenn man jemanden nicht kennt."
Wie das passieren kann? Bei Olympischen Rennen ist im Gegensatz zu Bewerben auf der World Tour Funk nicht erlaubt. Daher sind die Fahrerinnen von den Informationen der Begleitmotorräder und spärlichen Kommandos aus dem Begleitfahrzeug abhängig. Da ist wohl das Essenzielle verloren gegangen. Im radsportverrückten Holland wird Annemiek van Vleuten für den falschen Jubel nun sicher etwas Spott und Hohn in Kauf nehmen müssen.
Somit beendet die 38-jährige Niederländerin ihre Karriere mit Silber. Wiewohl sie zu den großen Favoriten gezählt hat und mit Olympia eine Rechnung offen hatte. Bei den Spielen in Rio stürzte sie und blieb regungslos im Straßengraben liegen. Die Bilder gingen damals um die Welt. So wie nun die von Anna Kiesenhofer, die bei der Siegerehrung etwas höher stand als die Berufsradfahrerin.