Fast 20 Jahre arbeitete Win Htet Oo für sein großes Ziel: die Olympischen Spiele. Der Schwimmer trainierte fast täglich an Technik, Kraft, Ausdauer, um einmal die Atmosphäre im Olympischen Dorf zu genießen. Doch Win Htet Oo entschied sich dagegen. Seine Begründung: „In der Parade der Nationen werde ich nicht unter der Flagge eines Landes marschieren, die eingeweicht ist im Blut meines Volkes.“ Win Htet Oo stammt aus Myanmar. Sein Olympia-Boykott ist ein Protest gegen das Militär, das in seiner Heimat die Macht übernommen hat. Hunderte Menschen sind seither bei Demonstrationen ums Leben gekommen, darunter die Taekwondokämpferin Ma Kyal Sin.
An Myanmar wird deutlich, in welchem Spannungsfeld sich die Olympischen Spiele bewegen. Seit ihrer neuzeitlichen Premiere 1896, seit mehr als 125 Jahren, nutzen Sportler Olympia als Bühne des Protests. „Die Spiele waren und sind ein Spiegel von sozialen Bewegungen“, sagt der US-amerikanische Olympiaexperte Jules Boykoff. „Doch diese Protestbotschaften sind oft auf Widerstand der Funktionärseliten gestoßen.“
Am Freitag wurden in Tokio die Olympischen Spiele eröffnet. Nach all den Krisen und Konflikten der jüngeren Vergangenheit drängt sich einmal mehr die Frage auf: Wie politisch dürfen, wie politisch sollten Spitzensportler sein? „Wir befinden uns in einem goldenen Zeitalter des sportlichen Aktivismus“, sagt Boykoff. „Viele Sportler gehen über plakative Botschaften hinaus und entwickeln langfristige Kampagnen.“
Wegen Protest geächtet
Wichtig für den Protest ist die Symbolik, das zeigen zahlreiche Beispiele aus der Geschichte, etwa 1936. Damals war Korea eine besetzte Provinz Japans. Nach seinem Sieg im Marathon wandte Sohn Kee-chung bei der Medaillenzeremonie den Blick von der japanischen Flagge ab. In seiner Heimat stand er fortan unter Kontrolle und durfte während der japanischen Herrschaft seinen Sport nicht mehr betreiben.
Über Jahrzehnte wurden Gesten und Kommentare genau gedeutet. 1968 wollten Kommunisten in der Tschechoslowakei Reformen anstoßen. Auch die Turnerin Vìra Èáslavská unterstützte diesen „Prager Frühling“. Trotzdem sollte sie bei den Spielen in Mexiko City Gold für den Ostblock gewinnen. Ihre sechs Medaillen widmete sie den Reformern. Nach ihrer Rückkehr wurde Èáslavská geächtet und erst 1989 rehabilitiert.
Die Regel 50 der Olympischen Charta untersagte lange politische Botschaften im Umfeld der Wettkämpfe. Die Regel steht im Widerspruch zu Artikel 19 der UN-Menschenrechtserklärung, die das Recht auf freie Meinungsäußerung betont. Für die Spiele nun in Tokio hat das IOC seine Regel 50 angepasst. Sportler dürfen sich bei Teambesprechungen, Pressekonferenzen oder vor Wettkämpfen politisch äußern – nicht aber bei Siegerehrungen oder im Olympischen Dorf. Mehrere Fußballerinnen haben in Tokio von der Regeländerung Gebrauch gemacht – mit einem Kniefall vor dem Anpfiff als Zeichen gegen Rassismus. Australiens Spielerinnen zeigten eine Flagge der Aborigines.
Mehr als nur Symbolik
Viele Sportler denken über symbolische Aktionen hinaus. In den USA unterstützen hunderte Sportler Black Lives Matter. Die Basketballerinnen von Atlanta Dream stellten sich gegen Kelly Loeffler, eine Miteigentümerin ihres Klubs und Anhängerin von Donald Trump. Im Libanon mobilisierte der Basketballspieler Fadi El Khatib für Proteste gegen Korruption. Und Chile, Kolumbien oder Algerien gingen tausende Fußballfans gegen soziale Ungleichheit auf die Straße.
„Viele Sportler vernetzen sich mit Menschenrechtsorganisationen“, sagt Wenzel Michalski von Human Rights Watch in Berlin. „Mit ihrer Bekanntheit können sie Gruppen erreichen, die NGOs vielleicht nicht erreichen.“ Besonders deutlich wird das in Belarus: Nach den manipulierten Präsidentschaftswahlen im August 2020 unterschrieben mehr als 2000 Sportler einen offenen Brief gegen Diktator Alexander Lukaschenko. Einige gründeten eine Stiftung und sammeln nun Spenden für Sportler, die nach Demonstrationen ihren Job verloren haben.
Das europäische Olympische Komitee hatte Alexander Lukaschenko einst für seinen „herausragenden Beitrag zur olympischen Bewegung“ geehrt. Seit Beginn der Olympischen Spiele vor 125 Jahren haben Funktionäre mit Diktaturen zusammengearbeitet, denn sie wollten neue Wachstumsmärkte erschließen. Aktuell öffnet sich das IOC – ebenso wie die Fußballverbände FIFA und UEFA – chinesischen Sponsoren. Die Winterspiele 2022 sollen in Peking stattfinden. Zur Verfolgung der Uiguren finden die Funktionäre keine angemessenen Worte. Auch das: eine politische Botschaft.
Ronny Blaschke