Win Htet Oo will nicht mehr. Oder sollte man besser sagen, er kann nicht mehr? Sein Leben lang hat der Freistilschwimmer davon geträumt, ein Olympionik zu werden. Dabei zu sein bei diesem Fest des Sports, zu dem nur die Besten aller Länder und Disziplinen kommen. Aber nach 20 Jahren, die er auf dieses Ziel hingearbeitet hat, sieht der 26-jährige keinen Grund mehr. „In der Parade der Nationen werde ich nicht unter der Flagge eines Landes marschieren, die eingeweicht ist im Blut meines Volkes.“
Es ist eine pathetische Art zu sagen: Sofern die Olympischen Spiele von Tokio diesen Sommer stattfinden, wird Win Htet Oo nicht für sein Land starten wollen. Und dies hat nicht etwa mit der dieser Tage üblichen Sorge um Infektionen mit dem Coronavirus zu tun, sondern mit Politik. Win Htet Oo will kein Land vertreten, deren Machthaber Gewalt gegen die eigene Bevölkerung anwenden, um ihre Macht zu sichern. Vor allem dann nicht, so der Schwimmer, wenn die Sportinstitutionen des Landes ihre Machthaber stützen.
Anfang Februar putschte sich Myanmars Militär an die Macht, nachdem die Wahlen im November nicht nach dessen Vorstellungen ausgegangen waren. Die Nationale Liga für Demokratie, angeführt von der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, hatte eine erdrückende Mehrheit errungen. Ohne Beweise vorzulegen, behauptete das Militär daraufhin einen Wahlbetrug. Im Februar, als das neugewählte Parlament erstmals tagen sollte, setzten die Generäle dann Aung San Suu Kyi und ihre demokratisch gesinnten Mitstreiter fest und erklärten den Ausnahmezustand.
Seitdem herrscht Chaos im Land. Immer wieder sind Tausende auf den Straßen, um für die erst vor einem Jahrzehnt zaghaft eingeführte Demokratie zu verteidigen. Das Militär reagiert mit der Gleichschaltung der Medien, der zeitweisen Abschaltung des Internets und Gewalt. Rund 750 Menschen sind schon gestorben, Tausende verhaftet. Der Konflikt spitzt sich auch deshalb so zu, weil nicht nur das Militär kompromisslos ist. Die Demonstranten haben das Land mit Generalstreiks lahmgelegt.
Win Htet Oo ist nicht der einzige Sportler, der Partei ergriffen hat. Im März ging die Taekwondo-Kämpferin Ma Kyal Sin eines Vormittags auf die Straße, um gegen den Putsch zu demonstrieren. Am Nachmittag war sie tot. „Ihr Leben, das voll von Opferbereitschaft war, verkörpert auf perfekte Weise die Werte, die wir und in unseren Sportsleuten erhoffen“, lobt Win Htet Oo seine Kollegin in einem Brief Mitte April an die Öffentlichkeit seines Landes, in dem er auch seinen Olympiaboykott erklärt.
Schon zu Anfang der Proteste solidarisierte sich die Badmintonspielerin Thet Htar Thuzar mit der demokratischen Bewegung, die als 64. der Weltrangliste eine der populärsten Sportlerinnen Myanmars ist. Über Facebook hatte Thuzar die Demonstranten unterstützt und ermutigt, weiterzukämpfen. Kurz darauf war ihr Profil nicht mehr verfügbar. Mittlerweile finden sich auf Facebook nur mehrere Fanpages mit um die 27.000 Mitgliedern. „Sie muss Druck von der Regierung erhalten haben“, erklärt der Schwimmer Win Htet Oo die plötzliche Ruhe.
Auch der vielleicht prominenteste Sportler Myanmars steht auf der Seite der Demokraten: Aung La Nsang, der mehrere Weltmeistertitel im Kampfsport Mixed Martial Arts gewonnen hat, postete Anfang April mit dem Hashtag „#SaveMyanmar“ die folgenden Zeilen einer politisch engagierten Sängerin: „Wir werden nicht kapitulieren, nicht einmal am Ende der Welt; unsere Geschichte ist mit Blut geschrieben; für die Helden, die ihre Leben für uns gelassen haben; Revolution und Demokratie.“
Auch der Fußball, der populärste Sport des Landes, wurde schon zur politischen Plattform. Anfang März nutzte sie der U23-Nationalspieler Fußballer Hein Htet Aung, der beim malaysischen Klub Selangor FC spielt. Anfang März zeigte der 19-jährige beim Torjubel den Gruß der drei ausgestreckten Finger, den die myanmarische Demokratiebewegung in Anlehnung an die Filmreihe „Tribute von Panem“ nutzt. Hein wurde daraufhin mit einer einwöchigen Spielsperre belegt. „Fußball muss über Rasse, Religion und Politik stehen“, erklärte der Verbandspräsident Baljit Singh Sidhu die Strafe.
Es ist eine Haltung, die man auch aus der olympischen Bewegung kennt. Erst Ende April wurde die Linie bekräftigt, dass Athletinnen während ihrer Wettkämpfe und bei Siegerehrungen keine politischen Statements machen mögen. Schließlich sollen sportliche Wettbewerbe eher zur Verständigung der Menschen beitragen statt zu deren Spaltung. Wie wacklig diese Argumentation ist, zeigt sich gerade im Fall von Myanmar, wo sich ein Land in ein Konfliktgebiet entwickelt und Menschen für Kritik an gewaltsamen Machthabern um ihr Leben fürchten müssen.
Dass der Sport an sich unpolitisch sein könne, treffe auf das gegenwärtige Myanmar eben nicht zu, sagt der Schwimmer Win Htet Oo. „Das Myanmarische Olympische Komitee ist eine Marionettenorganisation des Militärregimes, das Luftangriffe auf wehrlose Zivilisten angeordnet hat, das friedliche Demonstranten getötet hat.“ Schließlich sei der vom Putschregime eingesetzte Minister für Gesundheit und Sport zugleich Vorsitzender des Nationalen Olympischen Komitees. Im derzeitigen Myanmar funktioniere Sport als Unterdrückungsinstrument.
Was jedenfalls für die Argumente des Schwimmers spricht: Diejenigen Sportler, die sich noch nach Monaten des Konflikts unbeirrt gegen das Putschregime stellen, sind solche, die sich im Ausland aufhalten. Win Htet Oo lebt in Australien und hat deshalb weniger zu befürchten, als die Sportlerinnen und Sportler daheim – in Myanmar. Sofern sie noch am Leben sind.
Felix Lill