Es ist beinahe ein Automatismus. Wenn Victoria Hudson das Flugzeug zu ihrem nächsten Wettkampf besteigt, startet das Kopfkino wie von selbst. Dann läuft er ab, der große, ja perfekte Wurf. Der, mit dem man letztlich die beste Speerwerferin der Welt sein könnte. „Ich visualisiere dann den Anlauf, stelle mir oft den perfekten Wurf vor.“ Und dann fliegt ihr Speer. Wie weit? Man weiß es gar nicht. Klar ist: Die Europameisterin von Rom wird in Paris einen ihrer besten Wettkämpfe auspacken müssen. Dabei zählt sie zu den Favoritinnen, nicht nur wegen der Goldmedaille in Rom, sondern wegen ihres neuen Rekords von 66,06 Metern; in diesem Jahr die drittbeste Weite der Welt. „Aber“, bremst sie gleich alle weiteren Spekulationen und ergebnistechnischen Visualisierungen, „hier starten alle bei Null. Das Gold hilft mir nicht, die Weite auch nicht.“

Ganz so ist es natürlich nicht. Hudson, die vor knapp zwei Jahren zu Trainer Gregor Högler zurückgekehrt ist, hat Vertrauen in die Aufbauarbeit des Trainers. Sie weiß, dass ihre Ausflüge vor Olympia zu den Diamond-League-Meetings nicht die besten Weiten, aber wertvolle Punkte brachten. Sie weiß, dass das alles geschah, um für Paris bereit zu sein. Und sie weiß, dass eine Goldmedaille, wenn auch „nur“ auf europäischer Ebene, Erwartungen schürt. „Ja, ich habe mediale Aufmerksamkeit und Anerkennung bekommen, das schätze ich ja auch. Das kommt mit der Leistung wie ein gewisser Druck.“ Und doch: Hudson ist in ihrer eigenen Blase, „meine Erwartungen sind das, was zählt. Und ich weiß, was ich kann, was und wie wir trainiert haben.“

Wie für Trainingskollege Lukas Weißhaidinger galt auch für Hudson vor dem Wettkampf beinahe schon Isolation. Trainer Högler will das Adrenalin aufsparen, der Kick soll mit dem Betreten des Stadions kommen. Dann kommt der schwierige Teil; die positive Erregung ob der Stimmung darf nicht in Nervosität enden. „Ich muss in meiner Mitte bleiben, darf mich nicht ablenken lassen. Ich will ruhig bleiben, die Nerven nicht schmeißen. Aber zum Glück bin ich ja kein Küken mehr.“ Und dann muss sie alles geschehen lassen: „Früher habe ich im Training weit geworfen, aber nicht im Wettkampf. Jetzt ist es tendenziell umgekehrt.“ Das will sie schon in der Qualifikation zeigen; am liebsten so wie Lukas Weißhaidinger. Und das hieße: die geforderten 62 Meter gleich im ersten Versuch klarmachen. „Und dann schauen wir im Finale weiter.“