Die Spiele von Paris brüsten sich damit, die erste Olympiaausgabe zu sein, bei denen gleich viele Frauen und Männer antreten. Genderneutralität ist bei genauerem Hinsehen aber noch nicht hergestellt. Wer die Website des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) besucht, könnte denken, die Mission wäre endlich erfüllt: „Lernen wir diese Frauen kennen und erfahren wir, wie sie vor über einem Jahrhundert begannen, die Welt zum Besseren zu verändern“, heißt es in einem Artikel, der diverse Athletinnen auflistet, die Gendergleichheit im Sport einforderten. „Sie starteten den Wettlauf bis 2024 – den letzten Schritt hin zur historischen Gleichberechtigung der Geschlechter bei den Olympischen Spielen.“
Und heute, so wird es vom IOC suggeriert, sei das Ziel einer Sportwelt, die nicht mehr nach Geschlecht diskriminiert, endlich erreicht. Die Zeiten hätten sich geändert, und mit ihnen die Einstellungen von Menschen und Verbänden: „Bei den Spielen 2024 in Paris werden 10.500 Athleten teilnehmen, darunter ebenso viele Frauen wie Männer.“ Insofern ist Olympia also erstmals in der Geschichte kein vor allem männliches Sportereignis mehr. Und bis hierher ist es ein sehr langer Weg gewesen: Waren Frauen bei den Olympischen Spielen der Antike noch verboten gewesen, so blieb diese Regel bei den ersten modernen Spielen 1896 in Athen noch erhalten. 1900 in Paris durften dann neben knapp 1000 Männern erstmals 22 Frauen mitmachen – dies betraf die Sportarten Tennis, Golf, wo Frauenkategorien eingeführt wurden, sowie die gemischten Wettbewerbe im Segeln, Krocket und Reitsport.
Stetiges Wachstum
Seitdem ist die Anzahl von Frauen bei Olympia stetig gewachsen. Dabei erklärte es das IOC erst im Jahr 2014 mit seiner „Agenda 2020“ IOC offiziell zum Ziel, dass die größte Sportveranstaltung der Welt künftig für Geschlechtergleichheit stehen solle. Um dies zu erreichen, gab der Sportdachverband vor, die internationalen Sportverbände dazu zu bewegen, jeweils die Beteiligung von Frauen und Mädchen zu ermutigen sowie gemischtgeschlechtliche Wettbewerbe zu fördern.
Aber bei genauerem Hinsehen ist das Ideal der Gleichheit bis heute nicht erreicht. So werden einige Wettkämpfe im Ringen weiterhin nur für Männer ausgetragen – während in der Rhythmischen Sportgymnastik nur Frauen antreten. Insgesamt gibt es in Paris mit 157 Medaillenwettbewerben auch weiterhin mehr Gelegenheiten auf Gold für Männer als für Frauen. „Parität ist nicht dasselbe wie Gleichheit“, resümierte Michele Donnelly, Professorin für Sportmanagement an der kanadischen Brock University, im Frühjahr gegenüber „Eurosport“. Hinzu komme, dass Männer und Frauen in Sportarten oft nicht gleichen Regeln unterliegen. Beim Kunstturnen etwa müssen Frauen sich zu Musik bewegen, Männer aber nicht.
Das Olympia-Quiz
„Frauenturnen wird so durchgeführt, dass es stereotype Weiblichkeit betont“, schreibt Donnelly in einem Aufsatz. „Im Gegensatz dazu werden die Wettkämpfe der Männer so organisiert, dass Kraft und Stärke im Vordergrund stehen.“ In vielen Sportarten unterscheiden sich auch die Ausrüstung oder die Länge der Wettkämpfe je nach Geschlecht. „In Fällen, in denen eine Sportart eine geschlechtsspezifische Differenzierung vornimmt, wird der Frauensport als eine schwächere Version des Männersports konzipiert“, urteilt Michele Donnelly. Zu jenen Sportarten, wo Regeln und Ausrüstung gleich sind, zählen etwa Bogenschießen oder Badminton. In Reitevents treten Männer und Frauen gar direkt gegeneinander an.
Aber selbst hier besteht meist keine Geschlechtergleichheit, sobald sich der Blick vom Feld der Teilnehmenden abhebt. Der Job des Trainers ist weiterhin deutlich überwiegend männlich – gleich ob die betreute Person ein Mann oder eine Frau ist. Bei den letzten Spielen, 2021 in Tokio, waren nur 13 Prozent der Betreuenden weiblich. Und dies markierte schon eine Zunahme gegenüber vorigen Jahren. Auf sozialen Medien wirbt das IOC mit dem Hashtag #GenderEqualOlympics. Das ist aber noch nach einem weiteren Kriterium strittig: Diejenigen, die weder als Mann noch als Frau antreten dürfen, bleiben auf ganz andere Weise diskriminiert. Transpersonen mussten zuletzt meist ihren Testosteronspiegel anpassen, womit sie sich geschwächt sahen. Nach Rechtsstreits sind sie in Paris de facto oft ausgeschlossen. So kann ein weiterer Teil des Sports von Genderneutralität nur träumen.
Felix Lill