Den Kopf tief über den aus Carbon gefertigten Aufleger gebeugt, den Körper kompakt über dem Rahmen positioniert, werden Anna Kiesenhofer (15.06 Uhr) und Christina Schweinberger (15.18 Uhr) heute in Paris um jedes Hundertstel einer Sekunde kämpfen. Das Zeitfahren der Damen eröffnet die Wettfahrten der Radrennsportler bei den Spielen von Paris und auch wenn Kiesenhofer die Titelverteidigerin im Straßenrennen ist, der Kampf gegen die Uhr ist ihre eigentliche ganz große Leidenschaft. „In Tokio hatte ich da ja keinen Startplatz, aber für mich liegt die Priorität auf dem Einzelzeitfahren.“ Noch ist sie im Zeitfahren bei Großereignissen ohne Medaille. „Es wäre ein Traum, wenn ich auf das Podest kommen würde. Die Voraussetzungen sind jedenfalls sehr gut.“
Drei Mal haben die Österreicherinnen den Kurs abgefahren und dabei die Strecke aus mehreren Perspektiven für das spätere Videostudium aufgezeichnet. Dass die Wetterprognosen eine Regenwahrscheinlichkeit von 90 Prozent aufweisen, ist nicht dienlich. „Die Strecke ist vor allem im Mittelteil sehr technisch und wenn es wirklich nass wird, kommt es bestimmt auch auf die Risikobereitschaft an“, sagt Nationalteamtrainer Klaus Kabasser. Vor allem Kiesenhofer präferiert andere Bedingungen: „Ich liebe die Hitze. 35 Grad und trocken würde mir mehr liegen.“
Medaille „Überraschung, aber keine Sensation“
Kabasser wird wie bei der Goldfahrt in Tokio auch heute im Auto hinter Kiesenhofer Platz nehmen und knifflige Stellen per Funk ansagen. Dass beim letzten Training abseits der gesperrten Strecke der Belag aufgrund eines Nieselregens nass war, bezeichnet er als Vorteil, denn beide Damen haben ihr neues Material erstmals bei diesen Bedingungen bewegt. „Eine Medaille ist sicher im Bereich des Möglichen“, sagt der Grazer, „sie wäre durchaus eine Überraschung, aber keine Sensation.“ Die zweifache und amtierende Weltmeisterin Chloe Dygert (USA) wird wohl die zu schlagende Athletin sein. Grace Brown (NZL) und die Niederländerinnen Demi Vollering und Ellen van Dijk sind auch für Gold gut.
Die Vereinigung von körperlicher Leistung und technischem Verständnis lässt sie grübeln, rechnen, tüfteln und auch basteln. Es gilt, den Luftwiderstand zu minimieren und die optimale Position für die Kraftübertragung zu finden. 35 Damen aus 26 Nationen werden heute die 32,4 Kilometer mit nur 150 Höhenmetern in Angriff nehmen – das Podium von Tokio ist nicht vertreten. „Die Höhenmeter sind für beide nicht so entscheidend.“
Die Tirolerin Schweinberger reizte im Vorjahr mit Bronze bei der WM von Glasgow und der EM ihr Potenzial perfekt aus, dennoch ging das jüngste Duell bei der Staatsmeisterschaft um eine Sekunde an die Niederösterreicherin. Kiesenhofer hat sich den letzten Feinschliff im Höhentrainingslager von St. Moritz geholt, Schweinberger in Kühtai und den französischen Alpen.
Großschartner: „Ein bissel ein Hirn braucht man auch“
Bei den Herren vertritt Staatsmeister Felix Großschartner (Start 16.48 Uhr) die Alpenrepublik. Er feiert in Paris seine Olympia-Premiere. „Es ist unrealistisch, dass ich sage, ich will auf eine Medaille fahren, aber ich denke schon, dass ich gut mitfahren kann.“ Im Training absolvierte der 30-jährige Oberösterreicher auch drei Runden auf dem Kurs. „Radlfahren ist ja nicht nur oben sitzen und Vollgas reintreten, sondern ein bissel ein Hirn braucht man auch. Das muss man ganz smart pacen, dann kann man ein ganz gutes Ergebnis erzielen.“