Die Saison in der MotoGP-WM verläuft elektrisierend wie noch nie. Fünf verschiedene Sieger in zehn Rennen, dazu vier WM-Führende sprechen eine klare Sprache. Die Top fünf sind nur durch 31 Punkte getrennt, acht Rennen sind noch zu fahren. Beobachter sprechen von der besten Ära der Königsklasse. Alle Top-Asse haben mindestens einen Nuller auf ihrem Konto, bei Valentino Rossi passierte der Ausrutscher in Le Mans.
2017 geht es um Nuancen, und genau hier könnten die Routine und das Umfeld von Rossi ein großer Pluspunkt im Titelkampf sein. „Vale“ lernt scheinbar nie aus: Im zarten Alter von 36 Jahren holte er mit Ex-Weltmeister Luca Cadalora einen "Fahrlehrer" in seinen erlesenen Kreis. Die Truppe ist eingespielt. Man spricht Fehler offen an, hat keine Vorbehalte – und doch läuft alles amikal.
In Assen siegte "il Dottore"
Für "il Dottore" steht bisher ein Sieg in Assen zu Buche. Bei den hektischen Rennen am Sachsenring und in Brünn gab es trotz Pech Schadensbegrenzung. "Das Motorrad fühlt sich super an, seit wir den neuen Rahmen haben. Ich bin sehr happy", sagt er. Indiz: Beim Test am Montag in Brünn markierte der neunfache Champion sogar Bestzeit.
Clown und Lehrer. Rossis Vertrag bei Yamaha läuft 2018 aus. Fakt ist aber: "The Doctor" hat immer noch ungeheuer viel Freude am Rennsport, sodass ein Ende nicht absehbar ist. Zudem begleitet er in den kleineren WM-Klassen seine Akademie-Schützlinge um Halbbruder Luca, die ihm auf seiner Trainingsanlage "Ranch" bereits des Öfteren den Rundenrekord abgeknöpft haben. Doch der Meister schlägt auch dort immer wieder zurück.
Sogar nach einem aufreibenden Rennen in Brünn, inklusive verpatzter Strategie und Aufholjagd auf Platz vier, gibt er sich selbstironisch: "Bei solchen Rennen bin ich wohl immer der Idiot." Über seine Zukunft sagt er selbst: "Ich werde die Entscheidung Mitte 2018 treffen." Sein engster Kreis hält eine Fortsetzung für immer wahrscheinlicher.
Valentino hat weltweit mit Abstand die meisten Fans. 2017 gab es bei fast allen Rennen Besucherrekorde. Auch MotoGP-Boss Carmelo Ezpeleta (71) gibt sich ehrfürchtig vor dem "GOAT" ("Greatest of all times"): "Es macht mich perplex, wenn man ihn nur aufgrund der Ausweisdaten fragt, was mit ihm in Zukunft sein wird. Wollen wir tatsächlich jemanden fragen, wann er aufhört, der in Le Mans mit Rang zwei nicht happy war, beim Versuch zu gewinnen sogar einen Sturz in Kauf nahm und dann in Assen gewonnen hat?"
Über Rücktritt wird noch nicht gesprochen
Auch auf Rossis eventuelle künftige Rolle als Teambesitzer nimmt Ezpeleta Bezug: "Die Wahrheit ist, dass wir bisher noch nicht darüber gesprochen haben. Es käme einer Beleidigung gleich, jemanden nach dem Rücktritt zu fragen, der um den WM-Titel kämpft."
Das ganze Thema ist ein riesiges Rechenbeispiel. Mit dem Vertrieb seiner VR46-Fanartikel setzt Rossi pro Jahr längst einen mittleren zweistelligen Millionenbetrag um, was seine Fahrergage bei Yamaha (etwa neun Millionen Euro) vergleichsweise unspektakulär aussehen lässt. Persönliche Sponsoren bezahlen ebenfalls Millionenbeträge, um ihre Logos auf Helm und Kappe zu platzieren. Am prunkvollen Sitz seines Unternehmens VR46-Racing (zwei Rennteams und Fanartikel) in seinem Heimatort Tavullia ist Rossi Arbeitgeber für rund 100 Personen. In den wichtigen Positionen hat er Jugendfreunde und Vertrauensleute platziert. Aus dem Ruhm und der Leidenschaft ist somit auch eine riesige Verantwortung geworden.
Johannes Orasche