Für Lewis Hamilton ist die Sache klar: Sein WM-Rivale Max Verstappen fährt derzeit über dem Limit. Und dass der Niederländer dann auch noch Sonntag Nacht nachträglich eine Zehn-Sekunden-Strafe für den seltsamen Auffahrunfall zwischen den beiden bekam – was allerdings nichts am Rennergebnis änderte – bestärkte den amtierenden Weltmeister noch in seiner Sichtweise. So, dass er verbal noch einmal nachlegte – auch, um vor dem Finale in einer Woche in Abu Dhabi schon einmal öffentlich die Fronten abzustecken. Nach dem Motto: Ich bin der Gute, Max ist der Böse. „Ich versuchte hier wirklich, im Auto die Fassung zu bewahren“, sagt der Mercedes-Star. „Ich bin in 28 Jahren Rennsport gegen viele Piloten gefahren, und da gab es unter den Top-Piloten einige, die ein wenig über dem Limit operierten; Fahrer, für die Regeln offenbar nicht gelten, oder sie denken nicht an die Vorschriften.“
Denn eines ist klar: Hamilton fürchtet angesichts der Ausgangslage, dass Verstappen die WM-Entscheidung dann durch einen Crash suchen könnte: Die beiden sind punktgleich, aber Verstappen hat mehr Siege – würden beide ausscheiden, wäre der Red-Bull-Pilot also Weltmeister. Zumindest dann, wenn ihn die FIA nicht mit einem Punktabzug bestraft, oder gar, wie Michael Schumacher 1997 nach dessen provoziertem Crash mit Jacques Villeneuve, mit Streichung aller Punkte.
Historisch betrachtet ähnelt die Situation aber vor allem auch der von 1990, von Suzuka, mit dem berühmt berüchtigten Crash zwischen Ayrton Senna und Alain Prost in der ersten Kurve. Mit Verstappen in der gleichen Rolle wie damals Senna: Mit dem Gefühl, die ganze Welt gegen sich zu haben, vor allem die der obersten Entscheider.
"Maßstäbe werden anders gehandhabt"
Denn was auch Red-Bull-Motorsportkoordinator Helmut Marko am Sonntagabend sagte, ist nicht ganz falsch: „Wenn Max hart gegen Hamilton fährt, dann ist es eine Strafe, wenn Hamilton ihn von der Strecke boxt, dann ist das scheinbar ein Kavaliersdelikt. Aber so kann das nicht weitergehen.“ Worauf er sich bezog: Beim zweiten Platztausch hat Hamilton Verstappen ebenso von der Strecke gedrückt – ohne Strafe. Marko: „Also scheinen die Maßstäbe hier etwas anders gehandhabt zu werden.“ Der österreichische Ex-GP-Pilot Alexander Wurz stimmt da zu: „Das war von Lewis auch nicht sauber.“
Und es sind die vielen Kleinigkeiten, die sich aus Verstappens Sicht aufaddieren, ihm das Gefühl geben, immer schlechter wegzukommen als die Mercedes-Konkurrenz: Er bekommt in Katar eine Fünf-Plätze-Strafe wegen Missachtung gelber Flaggen, die dubiosen Umstände dieser Flaggen gelten nicht als Entlastung. In Dschidda, unter ähnlichen Umständen bei Hamilton im dritten freien Training, aber schon – keine Strafe. Das Behindern von Konkurrenten, Hamilton gegen Masepin, auch aus dem FP3, früher schon öfters Grund für Strafen – diesmal nicht, wegen der „Besonderheiten der Strecke.“ In der ersten Safety-Car-Phase bremst ihn Valtteri Bottas auf dem Weg zu einem möglichen Boxenstopp massiv ein – nicht einmal eine Untersuchung. Hamilton hält auf dem Weg zum zweiten Start mehr als die maximal erlaubten zehn Wagenlängen Abstand – angeblich gilt die Regel da aber nicht, da offiziell keine „Formationsrunde“...
Hoffnung auf faires Finale
Jetzt kommt noch die seltsame Begründung für die zweite Strafe wegen des Auffahrunfalls dazu: Einerseits bezeichnet man Verstappens Bremsmanöver als „unregelmäßig“, weil er erst verlangsamte und, als Hamilton nicht vorbei wollte, noch einmal recht heftig auf die Bremse stieg. Die Sportkommissare entlasteten Hamilton mit der Begründung, dass er aus verständlichen Gründen Verstappen nicht vor dem DRS-Messpunkt überholen wollte, um nicht auf der Zielgerade in einen Konter zu laufen. Was überhaupt nicht zu der Aussage von Hamilton passt, er habe überhaupt nicht gewusst, dass Verstappen ihn vorbeilassen wollte...
Der versteht das alles sowieso nicht mehr: „Das ist nicht mehr die Formel 1, wie ich sie im Fernsehen geschaut habe. Heute geht es ja mehr um Regeln als um Racing,“ ärgert sich der typische Racer in ihm, der auf das ganze Drumherum am liebsten verzichten würde.
Die Teamchefs der beiden hoffen jedenfalls offiziell noch auf ein faires Finalduell: „Es gab heute genug Warnschüsse, dass es in Abu Dhabi hoffentlich nicht eskalieren wird“, sagt Mercedes-Sportchef Toto Wolff. „ Niemand kann sich ein Saisonende leisten, in dem der WM-Kampf nicht auf der Rennstrecke ausgetragen wird." Christian Horner von Red Bull verspricht: „Wir wollen diese WM auf der Rennstrecke gewinnen und nicht anderswo.“
Karin Sturm