Nach drei einsamen Jahren an der Spitze ist für Mercedes im Frühsommer 2017 vieles anders - das Duell mit Ferrari bringt ungeahnte Herausforderungen. Motorsportchef Toto Wolff im Interview.

Herr Wolff, nach vier Saisonrennen sehen wir einen spannenden Titelkampf, Ferrari hat zu Mercedes aufgeschlossen. Wie kam das? Hat die jahrelange Überlegenheit ihr Team gemütlich werden lassen?

Toto Wolff (Mercedes-Motorsportchef, 45): Wir haben in den vergangenen Jahren kaum Fehler gemacht, auch keine kleinen. Daran sieht man, dass sich keine Bequemlichkeit eingeschlichen hat. Aber beim neuen Reglement fing alles wieder bei null an. Ferrari hat einen außergewöhnlich guten Job gemacht, und nur Mercedes fährt jetzt auf Augenhöhe mit. Das ist der klare Beweis unserer Stärke als Team, besonders nach all dem Erfolg der letzten Jahre. Jetzt stehen wir vor der Herausforderung, besser und schneller zu entwickeln und gleichzeitig unsere Kinderkrankheiten mit dem neuen Auto zu lösen.

Für die Spannung ist all das eine schöne Sache. Welche Rolle spielen zurzeit Lewis Hamilton und Sebastian Vettel für die Außenwahrnehmung der Serie?

Wolff: Die beiden sind einfach zwei der größten Fahrerpersönlichkeiten der modernen Formel 1. Zusammen sieben Fahrertitel, zusammen fast 100 Siege. Ein Titelkampf zwischen so großen Fahrern ist natürlich besonders spannend.

Mit seinem Sieg in Russland hat sich auch Valtteri Bottas als Titelkandidat in Stellung gebracht. Dabei hatten ihn zuvor einige als ihren Nummer-Zwei-Fahrer eingeordnet.

Wolff: Den Begriff 'Nummer-Zwei-Fahrer' haben wir bei Mercedes nicht. Es ist schon verrückt, dass man nach gerade einmal drei Rennen über seine Position spekuliert hatte. Man muss dem Kerl auch mal Zeit geben. Es war ein riskanter Schritt für ihn, Lewis Hamiltons Teamkollege zu werden und das Auto des amtierenden Weltmeisters zu übernehmen. Nach nur vier Rennen hat er jetzt schon eine Pole Position und einen Sieg vorzuweisen, in Russland war er der hochverdiente Gewinner.

Zuvor in Bahrain war Bottas langsamer als Hamilton gewesen und musste ihn vorbeilassen. Welche Rolle wird Teamorder im Titelkampf spielen?

Wolff: Das Thema ist zurecht sehr kontrovers. Niemand will sehen, dass die Teams in den Wettkampf eingreifen. Es kann aber wie in Bahrain Situationen geben, in denen der eine Fahrer aus verschiedenen Gründen schneller unterwegs ist. Das muss man dann berücksichtigen mit dem Ziel, als Team das Rennen zu gewinnen.

Aber ein Zurückpfeifen des einen zu Gunsten des anderen Fahrers bei gleichen Möglichkeiten wird es nicht geben? Wie Ferrari es einst mehrfach bei Michael Schumacher und Rubens Barrichello machte?

Wolff: Nein. Ich glaube, dass es damals auch ein anderes Umfeld war. Heute ist alles transparenter. Deshalb wäre eine so brutale Stallorder nichts, was wir machen wollen oder machen würden.

Auch der deutsche Mercedes-Junior Pascal Wehrlein hatte ja Chancen auf die Nachfolge von Nico Rosberg, letztlich machte Bottas das Rennen. Sie haben dabei immer auch auf eine gewisse Explosivität hingewiesen, die ein Duo Wehrlein/Hamilton gehabt hätte.

Wolff: Es ist einfach wichtig, dass die Dynamik zwischen den beiden Fahrern hinsichtlich der Persönlichkeiten stimmt. Das hat aber eine untergeordnete Rolle gespielt. Für Bottas haben 77 Rennstarts, neun Podien, viel Erfahrung und ein ruhiger, ausgeglichener Charakter gesprochen.

Und was hätte bei der Wahl Wehrleins diese Explosivität hereingebracht?

Wolff: Pascal ist jemand, der viele Emotionen in seinen Sport legt. Ein Fahrer mit Ecken und Kanten, mit Persönlichkeit, das gilt ja für viele, die es ganz hinauf schaffen. Und wir müssen auch bedenken, wie zwei Fahrer miteinander harmonieren. Das hat aber wie gesagt eine untergeordnete Rolle gespielt.

Manche sagen, Mercedes war nicht mutig genug.

Wolff: Es geht aber nicht um mutige Harakiri-Entscheidungen, sondern um die rational besten Entscheidungen. Und die haben wir getroffen. Pascal in seinem zweiten Formel-1-Jahr neben den besten Fahrer der Neuzeit zu setzen und von ihm Pole Positions und Siege zu erwarten, wäre schlichtweg falsch gewesen. Das Risiko, ihn zu verbrennen, wäre da gewesen.

Zuletzt wurde ja in großer Runde über die künftigen Formel-1-Motoren diskutiert. Welche Ergebnisse brachte das?

Wolff: Es war sehr produktiv, auch andere Automobil-Hersteller und unabhängige Motorenproduzenten waren dabei. Es wurde darüber philosophiert, wie die Rennmotoren ab 2021 aussehen müssen. Man hat sich auf einige Punkte geeinigt: vernünftige Entwicklungskosten, ein finanzierbares Paket für kleine Teams, ein guter Motorensound, Hybrid und Innovation. Das hört sich nach der eierlegenden Wollmilchsau an. Aber die Ingenieure haben genug Zeit, sich zu überlegen, wie sich das umsetzen lässt.

Birgt diese Frage nicht ein Grundproblem: Viele Fans wollen brüllende, ursprüngliche Motoren. Für die Hersteller ist die Formel 1 aber Werbeplattform, daher wollen sie hochmoderne, effiziente Maschinen bauen.

Wolff: Das mag sein. Man darf sich aber nicht davor verschließen, was in der echten Welt passiert. Für mich sind Menschen, die sich eine solche Motorenformel wünschen, nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Elektrifizierung und Hybrid passieren. Und am Ende ist bessere Effizienz auch in einem Rennmotor der Schlüssel zu besserer Performance.

Und wenn in ferner Zukunft vor allem Elektro-Autos durch die Straßen fahren, fährt dann auch die Formel 1 elektrisch?

Wolff: Dann wird die Formel 1 mit Sicherheit einen höheren Elektroanteil haben, als es heute der Fall ist. Gleichzeitig hat der Rennsport dann vielleicht ganz neue Möglichkeiten, Interesse zu erzeugen: Wenn wir auf der Straße selbstlenkend und elektrisch unterwegs sind und auf Rennstrecken Gladiatoren mit 370 km/h und über 1000 PS fahren, ist das auch etwas, das Emotionen erzeugen wird.