Als Lando Norris nach dem Rennen in Barcelona gefragt wurde, ob er sich eine Chance ausrechne, schon 2024 um den WM-Titel kämpfen zu können, druckste er ein bisschen herum, ehe er eine Antwort gab. Schließlich gehört es nicht zu den typischen Charakter-Eigenschaften eines erfolgreichen Formel-1-Piloten, seine eigenen Möglichkeiten zu unterschätzen. Andererseits kann zu großer, öffentlich zur Schau getragener Optimismus auch zusätzlichen Druck produzieren. Letztlich wurde es eine „sowohl als auch“-Aussage. „Ich glaube schon“, meinte er, um aber sofort nachzuschieben: „ Aber dafür muss Max aufhören zu gewinnen.“
Dass er jetzt auf Platz zwei in der WM-Wertung liege, spiele nämlich überhaupt keine Rolle, solange sich sein Punkterückstand auf Verstappen nicht verringere, sondern vergrößere. Und das noch dazu in Rennen wie Kanada oder eben Barcelona, die er eigentlich gewinnen hätte können ... oder gar müssen.

„Das sind zwei Rennen, in denen ich Zweiter geworden bin und Max gewonnen hat“, rechnete Norris vor. „Wäre es in beiden Rennen umgekehrt gewesen, läge ich statt 69 lediglich 41 Punkte zurück. Er baut momentan seinen Vorsprung aus, das können wir uns nicht leisten. Wir können es uns auch nicht leisten, ihn zu diesem Zeitpunkt der Saison einfach so davonziehen zu lassen.“
Zwei Faktoren spielen für ihn dabei die entscheidende Rolle: Erstens, dass der Weltmeister einfach keine Fehler macht: „Wir wären in der Position, um eine Schwäche von Verstappen sofort auszunutzen, aber der Kerl zeigt keine. Schauen wir uns nur mal an, was hier in Spanien passiert ist. Ich behaupte: Wir hatten das schnellere Auto, aber wir sind dennoch nur Zweiter geworden.»

Und zweitens: Dass es McLaren und ihm selbst noch nicht gelingt, die Möglichkeiten voll auszunützen: „Wir müssen einfach alle Details auf die Reihe bekommen und die Fehlerquote verringern, dann wird alles gut. Wir hätten aus mehr herausholen müssen. Ich weiß, dass wir gut genug sind, um Verstappen klipp und klar zu schlagen. Hätten wir klüger gehandelt in Montreal, wäre ich besser gestartet in Spanien, so hätten wir zwei Rennen gewinnen können. Aber so ist das nun mal im Motorsport – mit Hätte, Wenn und Aber gewinnst du keine Rennen.“

Max Verstappen selbst sieht die drohende Gefahr durchaus. Schon nach dem Qualifying in Barcelona hatte er einen dringenden Appell an Red Bull gerichtet, die derzeitige Entwicklung als Weckruf zu sehen, und gefordert, dass sich schnell etwas ändern müsse. Nach dem Rennen betonte er noch einmal: „Es kann nicht sein, dass bei uns immer alles passen muss, damit wir gewinnen. Irgendwann wird es mal nicht passen. Wir sind so am Limit, dass wir überall perfekt sein müssen. Deshalb müssen wir schnell nachlegen, um wieder das schnellste Auto zu haben.“

Einer seiner Kritikpunkte ist der Umgang mit den Reifen – früher eine ganz besondere Stärke von Red Bull: „Ich hatte Mühe mit dem Tempo, ich glaube auch nicht, dass wir heute die Besten waren, was den Reifenverschleiß angeht. Lando konnte mehr aus seinen Reifen holen, das hat McLaren besser gemacht. Ich kann nicht behaupten, dass wir etwas falsch gemacht haben, aber wir müssen zulegen.“ Nach dem insgesamt 120. GP-Sieg von Red Bull, seinem 61., ist Verstappen überzeugt: „Ich gehe davon aus, dass wir auch in den kommenden Rennen unter Druck stehen. Wir müssen uns strecken. Die Zeit der – in Anführungszeichen – einfachen Sieg ist vorbei.“

Ein Anzeichen für die Probleme bei Red Bull sind auch die Schwierigkeiten von Sergio Perez: Der schaffte es vom 11. Startplatz gerade mal bis auf Platz acht, konnte nie wirklich überzeugende Rundenzeiten fahren und Boden gegenüber der Konkurrenz gut machen: Wie sagte in alten Zeiten der damalige Technische Direktor von Ferrari, Ross Brawn, einmal: „Wenn ich genau wissen will, wo unser Auto steht, dann schaue ich mir nicht Michael Schumacher an, sondern Eddie Irvine. Weil die ganz Großen können Schwächen des Autos durch ihre eigene Stärken immer noch verdecken.“