Einer meiner Kindergartenfreunde hieß Jochen, ein am Land unüblicher Name, waren doch die Knaben damals alle Gerald, Harald, Scherard, Tschillbär oder ähnlich benamst. Aber Jochen? Seine Eltern müssen Fans des großen Jochen Rindt gewesen sein, des ersten österreichischen Formel-1-Weltmeisters – eine Art Johannes der Täufer für den Erlöser der leidgeplagten heimischen Rennsportseele: Niki Lauda. Rindt hat den Glauben an die Geschwindigkeit, das Mantra des schnellen Rundendrehens, den Benzinsport nach Österreich gebracht.
Bei meinem Onkel hing im Wohnzimmer lange ein Poster von Rindt in seinem roten Formel-1-Lotus. Damals trugen die Fahrer noch Fliegerbrillen und einen Gesichtsschutz über Mund und Nase, womit sie aussahen wie Skifahrer in Coronazeiten. Männer verbrachten ihr Leben in Garagen, meist in der Grube, um Ölwannen auszubauen, Auspuffrohre zu schweißen oder Radaufhängungen zu prüfen. In der Garage meines Vaters prangte ein Poster von Rindts schwarzem Formel-2-Lotus.
Lotusblüte und Mythos
Noch Ende der 70er, als Jochen Rindt längst tot war, seine Witwe Nina, eine attraktive finnische Hutfetischistin wie Heißfegerin, längst wieder geheiratet hatte und Niki Lauda bereits Doppelweltmeister war, fiel es meiner Verwandtschaft nicht ein, die Rindt-Bilder zu ersetzen. Man litt mit Karl Schranz olympisch, wurde mit Hans Orsolics Box-Europameister, jubelte Franz Klammer den Patscherkofel hinunter, ist mit Hans Krankl narrisch geworden – aber Rindt überstrahlte alle. Jochen Rindt war ein Mythos, die Lotusblüte der österreichischen Identitätsfindung, die ein ganzes Volk zu Motorsportnarren gemacht hat.
Als am 5. September 1970 in der Parabolica-Kurve zu Monza eine Bremswelle in seinem Lotus 72 brach, der Wagen ausscherte und ungebremst in die Leitplanken donnerte, starb Österreichs erster Held. Er musste sterben, weil er sich aus Angst vor einem Feuerunfall nur schlampig angegurtet hatte, sich am scharfen Armaturenbrett die Kehle aufschlitzte, der Ambulanzwagen im Mailänder Stau feststeckte, es im Formel-1-Zirkus noch keine Rettungshubschrauber gab, der Tod damals ein verlässlicher Begleiter des Rennsports war. Alleine in den 60ern verunglückten elf Formel-1-Fahrer tödlich.
Am 5. September 1970 wurde, wie eine heimische Zeitung schrieb, der Himmel über Österreich ausgeknipst. Heinz Prüller soll einen veritablen Nervenzusammenbruch gehabt haben, um sich von diesem Schock nie wieder ganz zu erfangen. Dass er sich später Jochen in sein Jochbein eingravieren ließ, ist nicht bewiesen, dafür rächte er sich, indem er den Gehirnen seiner Landsleute zu hypnotischem Motorenlärm alles über Ansaugstutzen, Reifendruck, Safety-Car-Phasen, Bodenplatten etc. einpflanzte.
Am Unfalltag verfiel ganz Österreich in Schockstarre. Jochen Rindt war Österreichs erster Popstar. Draufgänger, Fahrgenie, erfolgreicher Geschäftsmann, Initiator einer Rennwagenshow, Teammanager in der Formel 2, Vorreiter in Sachen Sicherheit, glücklicher Familienvater und Sunnyboy, der mit Zigarette und Sonnenbrille die ultimative Coolness verkörperte. Er stand für ein neues Lebensgefühl, das die Österreicher vom Misthaufen-Gummistiefel-Selchknödel-Mief in die Moderne katapultierte. Schnelle Autos, todesverachtende Typen, hübsche Mädchen, Boxenluder, die heute schon aus Gründen der politischen Korrektheit inakzeptabel wären. Eine andere Zeit.
Erbe in Rennsport gesteckt
Bereits mit Lauda wurde der Rennsport berechnender, mit Schumacher hinterlistiger und mit Hamilton langweiliger. Aber Jackie Stewart, Jacky Ickx, Emerson Fittipaldi waren noch Raubtiere, denen man nach Siegen traktorreifengroße Lorbeerkränze umhängte. Und angeführt wurde das Rudel von Jochen Rindt, der mit seiner assyrischen Nase aussah wie ein Adeliger, der beim Boxen eine auf den Zinken bekommen hatte.
Der verwaiste Sprössling einer Gewürzmühlendynastie besuchte das von Wilhelm Höttl gegründete Privatgymnasium in Bad Aussee, wo auch Helmut Marko, André Heller oder andere verhaltensauffällige Schüler zur Matura getragen wurden. Nach dem Abschluss verkaufte Rindt sein Erbe, um sich ganz dem Rennsport zu widmen.
Er fuhr in motorisierten Seifenkisten, siegte sich nach oben. 1965 gewann er 23-jährig gegen die großen Werkteams von Ford und Ferrari das 24-Stunden-Rennen von Le Mans, ein Jahr später bezwang er in seinem erst zweiten Formel-2-Rennen Graham Hill, worauf er in englischen Zeitungen als unbekannter Australier gefeiert wurde. Eigentlich war er ja Deutscher, aber da er seit frühester Kindheit in Graz lebte, fuhr er mit österreichischer Resilienz, nein, Rennlizenz, wurde, auch wenn in seinem Motor kein Kernöl war und er nicht steirisch bellte, als Beuteösterreicher eingeheimst.
In allen Klassen sah die Konkurrenz nur seinen Auspuff. Bloß in der Formel 1 schien es nicht zu klappen. Ein britischer Motorjournalist verwettete sogar seinen Rauschebart, dass Rindt trotz unbestrittenen fahrerischen Könnens nie ein Rennen gewinnen würde. 1969 in Watkins Glen war es um den Bart geschehen und 1970 sollten fünf weitere Grand-Prix-Triumphe folgen. Rindt hatte sich mit dem Teufel eingelassen, der in seinem Fall Colin Chapman hieß und ihn zu Lotus lockte, ins damals schnellste, aber auch gefährlichste Auto. Man experimentierte mit den Heckflügeln, die zeitweise aussahen wie eine Mischung aus Sonnensegel und Gebetsteppich.
Dann die Tragödie von Monza, Rindt wurde erster posthumer Weltmeister und nach Phil Hill, Mike Hawthorn und Giuseppe Farina der Champion mit den wenigsten Rennsiegen. Er hätte ein ganz Großer werden können, ein Jochenator.
Kanus auf Rädern
Damals sahen die Boliden aus wie Kanus auf Rädern, die Männer trugen Rüschenhemden, Koteletten bis unter die Achselhöhlen und Hosen, die bei den Füßen das Ausmaß der Pummerin hatten. Im Umfeld von Jochen Rindt starben Brian Jones, Jimmy Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison – der Club 27, in den er auch gehört, obwohl ein paar Monate zu alt. Durch seinen frühen Tod hatte er keine Gelegenheit, seinen Mythos zu verbeulen, konnte er sich nicht als Geizkragen, Frauenprügler, Alkoholiker oder ähnlich Ungustiöses entpuppen. Er musste nicht für Tankstellen, Möbelhäuser oder Wettanbieter Werbung machen, nicht Autorennen co-kommentieren, in kein Dschungelcamp, nicht einmal zu den Dancing Stars.
Jochen Rindt blieb unbefleckt von der Seitenblickemischpoche, unerfasst von der Korrumpierbarmachung des Erfolgs. Sein Leben wurde viel zu schnell abgewunken, aber der Mythos bleibt.