Ob Dominic Thiem Dostojewski gelesen hat? Der große russische Erzähler soll seinen jüngeren Bruder dereinst aufgefordert haben, nicht an rosarote Eisbären zu denken. Oder waren es hellblaue Himbeeren, grüne Eisbrecher? Was auch immer, der Befehl, nicht daran zu denken, bewirkt, dass es unentwegt im Hirn herumspukt. Bei Thiem ist es das Karriereende. Irgendwer hat ihm gesagt, dass er es aus seinem Kopf streichen muss, und nun denkt er an nichts anderes. Sogar über die Lippen ist es ihm gekommen: Wenn er weiter verliert, hört er auf.

Natürlich ist es deprimierend, in einer ersten Runde gegen die Nummer 295 der Weltrangliste abzustinken, noch dazu bei einem Challenger in Szekesfehervar, einem Namen, der Löckchen auf der Zunge dreht. Seit seinem Triumph bei den US-Open 2020, dem verrücktesten Tennisspiel, das ich je gesehen habe, ist die Luft draußen. Dabei dachte man damals, er und Zverev würden sich noch um viele Titel duellieren. So kann man sich irren.

Nun schleicht Thiem über den Platz wie ein halbgefüllter Luftballon, der nicht weiß, ob Fliegen oder Zerplatzen. Seinen Schlägen fehlt das Selbstvertrauen. Einmal heißt es, es liege an mangelnder Fitness, dann wieder wird die nicht vorhandene Matchpraxis als Grund für die matschige Vorhand angeführt. Er nimmt eine Auszeit, verspricht fleißig zu trainieren, und kommt noch schlechter zurück. Sein Comeback erinnert an Einsteins Definition von Wahnsinn: immer dasselbe tun und andere Ergebnisse erwarten.

Mittlerweile ist die Dichte im Tennis so gewaltig, dass selbst Weltranglisten-Nachzügler kleine Schwächephasen nützen. Thiem passieren die ständig. Er zeigt ein paar Klasseschläge, wird zweimal passiert, und schon ist er weichgekocht und Passagier, gefangen in einer Schlucht aus Verzweiflung, Wut und Selbstmitleid. Was ist bloß los mit Österreichs bestem Tennisspieler aller Zeiten (neben Muster)? Was ist aus seiner begeisternden Spielweise geworden, die dem charming Sympathieträger Fans rund um den Globus eingebracht hat? Liegt es am familiären Management, das ihm einen lettischen Touring-Coach zur Seite stellt, dessen Weltranglistenhighlight 347 war? Hat ihm seine Zirkusartistin etwas verrenkt?

Mit 30 ist Thiem im besten Tennisalter. Sechs, acht gute Saisonen könnten sich leicht noch ausgehen. Er muss nur wieder an sich glauben. Vielleicht sollte er Dostojewski lesen, sich all die langen Namen merken und an etwas anderes denken als ans Aufhören. Thiem hat viele verloren geglaubte Matches gedreht. Hoffen wir, dass er das auch mit seiner Karriere schafft. Zu wünschen wäre es. Die Möglichkeiten hat er, nur denkt er momentan zu viel.