Ein ganzes Jahrzehnt, also von 2008 bis 2018, führte in den Sprintbewerben der Leichtathletik kein Weg an Usain Bolt vorbei. Und so wird am Sonntag, wenn beim 100-Meter-Finale der Männer um 14.50 Uhr mitteleuropäischer Zeit der Startschuss für die spannendsten zehn Sekunden der Olympischen Spiele in Tokio fällt, erstmals seit 2004 (damals triumphierte Justin Gatlin) am Ende nicht der Name des Jamaikaners aufleuchten. Seit dem Rücktritt von „Lightning Bolt“ („Blitzschlag“), der die Massen nicht nur mit seiner Schnelligkeit, sondern auch mit seinem Gespür für Entertainment elektrisierte, ist man auf der Suche nach einem neuen Superstar. Und es ist gut möglich, dass Trayvon Bromell in diese Rolle schlüpfen könnte.
Der Amerikaner gilt als klarer Favorit und hat auch eine interessante Geschichte zu bieten: So hatte der 26-Jährige, der im Juni mit 9,77 Sekunden aufgezeigt hatte und damit die Nummer sieben der ewigen Bestenliste ist, schon schwere Verletzungen an den Knien, der Hüfte und der Ferse. Nach zwei Achillessehnen-Operationen drohte ihm sogar das Karriere-Aus. Die Ärzte hätten ihm gesagt, dass er „nie wieder in Top-Form“ kommen werde, „aber Gott war anderer Meinung“, sagte Bromell, der sich stärker als jemals zuvor zurückgemeldet hat. Außerdem läuft der aus armen Verhältnissen stammende US-Sprinter nicht nur für den Ruhm. „Mein Ziel ist der Wandel“, verkündete er. „Ich will Hoffnung geben.“
Der Weltmeister fehlt, Bolt ist enttäuscht
Klar ist, dass Bolts Fabelweltrekord (9,58 Sekunden) am Sonntag bestehen bleiben wird. Unklar ist, wer Bromell den Sieg streitig machen könnte. Landsmann Noah Lyles startet nur über die 200 Meter, Weltmeister Christian Coleman ist wegen eines Doping-Vergehens gesperrt. Und auch von den Jamaikanern, die bei den vergangenen drei Spielen im Windschatten Bolts die Sprintbewerbe dominierten, ist nicht viel zu erwarten. „Ich bin über die aktuelle Situation enttäuscht, weil ich denke, dass wir in Jamaika das Talent haben. Wir müssten es nur ernten und die Leute müssten das Training ernst nehmen“, erklärte der achtfache Olympiasieger. Hoffnungsträger des Landes ist Yohan Blake, der ehemalige Trainingspartner Bolts. Um eine Medaille zu gewinnen, müsste er seine Saisonbestleistung von 9,95 Sekunden über 100 Meter aber wohl deutlich steigern.
Bei den Damen steigt bereits heute (14.50 Uhr) das 100-Meter-Finale – und dieses verspricht weit mehr Spannung als jenes bei den Herren. Schnellste in den Vorläufen war Marie-Josee Ta Lou von der Elfenbeinküste in 10,78 Sekunden vor der Jamaikanerin Elaine Thompson-Herah (10,82). Ihre Landfrau Shelly-Ann Fraser-Pryce unterstrich mit 10,84 Sekunden ihre Ambitionen, nach 2008 und 2012 als erste Frau zum dritten Mal 100-m-Gold zu holen.