Mit zwei Siegen würde Frankreich den Titel in Katar holen und gleichzeitig Geschichte schreiben. Man wäre nach Italien 1938 und Brasilien 1962 das dritte Land, das den Titel bei einer Fußball-Weltmeisterschaft erfolgreich verteidigt hätte. Doch mit der nahen Zukunft beschäftigen sich die Franzosen vor dem heutigen Halbfinale (20 Uhr) gegen Marokko nicht. Die ganze Konzentration wird auf das Duell gegen die "Löwen vom Atlas" gebündelt.
Die Marokkaner haben bei dieser WM überrascht, haben gezeigt, dass mit einer ausgefeilten Taktik, Mut, fußballerischem Können und Zusammenhalt vieles möglich ist. Spanien und Portugal wurden in der K.o.-Phase eliminiert, Belgien und Kanada bereits in der Vorrundengruppe F besiegt. Nicht unverdient, weil beide Mannschaften nicht in der Lage waren, die defensive Spielanlage auszuhebeln. Mit taktischer Disziplin und dynamischen Gegenstößen, gutem Fußball und etwas Glück spielte sich Marokko bis ins Semifinale.
Die Fußballreise soll heute nicht enden. "Wir wollen Geschichte schreiben und Afrika an die Weltspitze setzen", sagte Marokko-Coach Walid Regragui. "Wenn wir zufrieden damit wären, im Halbfinale zu stehen, wären viele Menschen einverstanden – aber ich nicht. Wir sind unter den besten vier und wollen ins Finale kommen." Er ist der Regisseur der marokkanischen Vorstellungen und sorgte für Sympathien aus aller Welt.
"Katar verliebt sich in Marokko", schrieb die französische Zeitung "Le Parisien". Aber es sind viele Fußballinteressierte rund um den Erdball. Das liegt auch daran, dass Marokko eine Multikultitruppe ist. Zwölf Spieler aus Regraguis Kader stammen ursprünglich aus Marokko. Weitere Nationalspieler kommen aus Kanada, Spanien, Belgien oder den Niederlanden. Die Identifikation mit Marokko bleibt aber. Und so hoffen viele Fans, dass Marokko heute auch gegen die Franzosen überrascht und den Einzug ins Finale schafft.
Der regierende Weltmeister hat ebenfalls noch Großes vor bei diesem Turnier. Die Favoritenrolle ist Frankreich gewiss. Teamchef Didier Deschamps stehen außergewöhnlich gute Spieler zur Verfügung. Die große Frage wird sein: Wie wollen die Franzosen den Defensivverbund aufschnüren? "Hoffentlich werden wir eine Lösung finden", sagte Nationaltrainer Didier Deschamps, der mit seinem Team im Viertelfinale gegen England viel Mühe gehabt hatte. Die Herausforderung Marokko nimmt der 54-Jährige entspannt lächelnd an: "Wir werden versuchen, sie zu entschlüsseln, Chancen zu kreieren und Tore zu schießen."
Mbappe gegen Hakimi
Auf dem Rasen treffen mit Kylian Mbappe und Achraf Hakimi auch zwei Mannschaftskollegen von Paris St. Germain und Freunde aufeinander. Im Internet kursierte in den vergangenen Tagen ein Video der beiden im leeren Education City Stadion zu Jahresbeginn. Mbappe und Hakimi blödeln. Der Franzose sagt das Spiel gegeneinander praktisch voraus. Es werde sein Herz brechen, aber er müsse seinen Freund "zerstören", sagte Mbappe lachend. Hakimi lacht auch. Als Rechtsverteidiger wird der Marokkaner praktisch über die gesamte Spieldauer auf den Linksaußen Mbappe treffen. "Er kennt ihn besser als ich", sagte Regragui. "Er trainiert jeden Tag mit ihm."
Frankreichs Kapitän Hugo Lloris nimmt auch zum Privatduell Stellung und sagt: "Auch wenn man neben dem Platz befreundet ist: Wenn du bei einer WM spielst und dein Land vertrittst, geht das vor. Dann übernimmt der Wettkampfgeist. Es ist vielleicht schwieriger, gegen einen Teamkollegen zu spielen, weil man sich so gut kennt."
Weil mehr marokkanische Fans im Al Bayt Stadion angesagt sind, erwartet Lloris eine "feindselige Atmosphäre. Das wird hart, wir müssen fokussiert bleiben", sagt der Team-Torhüter.