Nach dem Sieg im Achtelfinale gegen Senegal wurden die Spieler der englischen Nationalmannschaft um drei Uhr früh von zahlreichen Hotelmitarbeitern mit St.-George-Flaggen und Konfetti empfangen. Der Spaß beruhte auf Gegenseitigkeit. Jack Grealish, Kyle Walker und Co. scheuten sich nicht und tanzten voller Freude mit und hatten sichtlich jede Menge Freude. Es sind nicht nur solche Auftritte, sondern das gesamte Verhalten der Nationalmannschaft, das auf eine besondere Mentalität zurückzuführen ist.
Die Kultur des Teams soll den Spielern zufolge eine ganz besondere sein. Einen Einblick verschaffte der Innenverteidiger John Stones: "Wir haben darüber gesprochen, dass wir keine Standards fallen lassen. Auch wenn es nur Kleinigkeiten sind, wie die Socken für die Zeugwarte richtig hinzulegen – wir streiten uns darum, weil wir diese Grundsätze geschaffen haben." Kann etwas so Kleines wie das richtige Drehen der Socken einen Unterschied machen? Georgie Twigg, eine Spielerin des britischen Hockeyteams bei den Olympischen Spielen 2016, findet solche Belanglosigkeiten sehr wichtig. Ihr Team hatte eine ähnliche Philosophie wie Gareth Southgate heute. "Die meisten von uns wären nie beste Freunde geworden, aber eine gemeinsame Kultur zu schaffen, wo jeder zu einem gemeinsamen Ziel hinarbeitet, ist sehr mächtig und kann Auswirkungen auf das Spiel am Feld haben", sagt Twigg. Der englische Fußballtrainer implementierte dieses System in sein Team, weil er mit Twiggs Trainer Danny Kerry gesprochen und von ihm gelernt hat.
Seine Karriere als Trainer begann er beim FC Middlesbrough als Spielertrainer. Er hatte zwar nicht die notwendige UEFA-Pro-Lizenz, aber die Premier League erteilte ihm trotzdem die Erlaubnis, weil sie der Argumentation folgten, dass Southgate keine Zeit für einen solchen Kurs hatte. Um bei möglichen Verletzungen seiner Mannschaft helfen zu können, blieb er weiterhin als Spieler gemeldet.
Heute lautet Spaß, Rechenschaft und Verantwortung die Formel von Southgate. Seit er 2016 die Verantwortung für die englische Nationalmannschaft übernommen hat, etablierte er zum einen eine neue Kultur und hat sich zum anderen außerhalb von Taktik und Formation weitergebildet. Unter anderem sprach er mit dem oben genannten Hockey-Trainer Danny Kerry, der mit seinem Team olympisches Gold gewann. Es sagt zudem auch einiges aus, dass Southgate an einem dreijährigen Elite-Coaching-Programm teilnahm. "Es war nicht nur ein Privileg, sondern auch eine großartige Möglichkeit", meinte er nach dem Ende des Kurses, in dem er Ideen und Gedankengänge mit Toptrainern und Philosophen austauschen konnte.
Ein anderer, wichtiger Faktor in der Entwicklung des ehemaligen Innenverteidigers spielte der neuseeländische Performance-Coach Owen Eastwood. Sein Konzept namens "Whakapapa" soll dabei helfen, seinen Platz in einem Stamm oder einer Familie zu schaffen. Dieses Konzept auf den Sport und die englische Nationalelf umgelegt bedeutet, dass die englischen Spieler seit 2019 ihre sogenannte Vermächtnisnummer im Trikot eingestickt bekommen. Robert Barker, Englands Tormann im ersten internationalen Match Englands, hat die Nummer 1. David Beckham beispielsweise hat die Nummer 1078. Das ist sozusagen sein Platz in der Geschichte des englischen Fußballs.
Gareth Southgate setzt auch auf Vertrauen und Offenheit. Er würde von seinen Spielern nie etwas verlangen, was er selbst nicht machen wollen würde. Der 52-Jährige möchte seinen Spielern helfen, ihr Potenzial zu erreichen und setzt sich selbst nur an die hinterste Stelle. "Es geht nicht um mich. Die Spieler sind die Helden", sagt Southgate. Doch in schwierigen Situationen stellt er sich vor seine Spieler und legt die schützende Hand über sie. Nach dem verlorenen EM-Finale 2021 betonte er, dass er stolz auf seine Spieler sei, und bestand darauf, dass es nicht "ihre Schuld" sei.
Natürlich hat ihm sehr geholfen, dass er die letzten Jahre nicht unerfolgreich war. Der vierte Platz bei der WM 2018 und der Vizeeuropameister-Titel von 2021 stehen bei Großereignissen zu Buche. Bei der heurigen WM marschierten die "Three Lions" ohne Probleme ins Viertelfinale, wo heute mit Frankreich der erste Härtetest wartet. Gegen Didier Deschamps und Frankreich stand er erst einmal auf der Seitenlinie und zwar bei einem Freundschaftsspiel 2017, das 2:3 verloren ging. Doch diese Fakten und der bisherige Weg in Katar spielen im Viertelfinale keine Rolle. Eine ganze Nation hofft nun wieder einmal darauf, dass Southgate den Pokal endlich nach Hause bringt.
Christoph Kolland