2:0 gegen Wales - zwei Tore des Iran tief in der Nachspielzeit ermöglichen Sensationelles in einer politisch aufgeladenen Partie: Am Dienstag können die Perser just gegen den "Erzfeind" aus der USA aus eigener Kraft ins Achtelfinale einziehen. Erstmals in der Geschichte. Fünfmal hat der Iran an WM-Turnieren teilgenommen, über die Gruppenphase ist man bislang aber noch nie hinausgekommen.
Daran hat aber beim iranischen Team niemand gedacht, als sich die Spieler in der 98. Minute (der Treffer von Cheshmi sollte zum spätestens entscheidenden Treffer bei einer WM werden, seit Tore minutengenau aufgezeichnet werden) und dann in der 101. Minute nach der Entscheidung durch Rezaeian zum 2:0-Endstand in den Armen lagen, nachdem der walisische Keeper Hennessey nach einer brutalen Attacke in der 86. Minute (auch wenn er an sich nur klären wollte) die erste Rote Karte dieses Turniers gesehen hatte. Die Iraner feierten den Sieg mit ihren Fans, trugen ihren portugiesischen Teamchef Carlos Queiroz auf den Schultern durch das Stadion. "Das war ein Sieg der Solidarität. Wir wollen die iranischen Fans beschenken und das wollen wir noch einmal schaffen", sagte der Teamchef. Es gehe endlich wieder um Fußball.
Das war bisher nicht so. Die iranischen Spieler stehen seit ihrer Ankunft in Katar im Fokus. Das Regime in der Heimat möchte die Spieler für sich vereinnahmen, die Gegner des Regimes erwarten eine klare Abgrenzung. Beim 2:6 gegen England am ersten Spieltag haben die iranischen Spieler bei der Hymne kollektiv geschwiegen. Vor dem 2:0 gegen Wales sangen sie - zurückhaltend und mit finsteren Mienen, aber sie sangen. In den sozialen Medien wurde spekuliert, zu welchen Mitteln und Drohungen das Regime den Akteuren und wohl auch deren Familien gegenüber gegriffen hatte, um das Nationalteam davon abzubringen, ein weiteres Mal stumm zu bleiben. Pfiffe von den Rängen, dann doch Jubel. Und unzählige weinende Fans des Iran waren im Publikum zu sehen.
Es ist tatsächlich keine Selbstverständlichkeit, dass der Iran in der vom Teamchef vorgesehenen Besetzung nach Katar reisen konnte. Queiroz' Kaderbekanntgabe verzögerte sich eine Woche vor Turnierbeginn um Stunden. Ausgerechnet Leverkusen-Legionär Sardar Azmoun, einer der beiden Superstars im Team, soll nicht zum Turnier mitreisen dürfen. Ein regierungskritisches Posting in den sozialen Medien war Anlass.
Mehrere Spieler haben kryptische Postings verfasst, Azmoun war konkret: "Die höchste Strafe ist der Rauswurf aus der Nationalmannschaft, was ein kleiner Preis ist, den man selbst für eine einzelne Haarsträhne einer iranischen Frau zahlen muss. Schämen Sie sich dafür, dass sie Menschen und Frauen aus dem Iran töten. Lang lebe die iranische Frau", schrieb der 27-Jährige in einer Story auf Instagram. Was eben dazu führte, dass seine Nicht-Nominierung im Raum stand. Queiroz soll seinen Job angeboten haben. Am Ende war Azmoun dabei. Stand gegen Wales in der Startelf. Sang. Wurde im Staatsfernsehen aber nicht gezeigt - ebenso wenig wie der zweite Superstar der Mannschaft, Mehdi Taremi, übrigens.
Auslöser für die Proteste im Iran und gegen die Regierung ist der Tod von Mahsa Amini. Die junge Frau aus der Provinz Kurdistan wurde am 16. September während ihrer Inhaftierung in Teheran getötet. Der Vorwurf: Sie hat ihren Hidschab in der Öffentlichkeit nicht angemessen getragen.
Beim Spiel gegen Wales im Stadion waren Fans, die auf ihren Trikots den Namen der jungen Frau trugen. "Woman Life Freedom" war auf Plakaten zu sehen und wurde auch skandiert. "Ich bin hier, um zu sagen, dass Fußball nicht wichtig ist, wenn Menschen auf den Straßen getötet werden", sagt die 35-jährige Maryam, eine in London lebende Iranerin, zu AP. Maryam und ihre Freunde trugen Hüte, auf denen der Namen Voria Ghafouri. Der ehemalige Nationalspieler des Iran wurde am Donnerstag verhaftet, weil er sich regierungskritisch geäußert hatte. Dramatisch: Während die iranischen Fußballer und ihre Fans in Katar jubelten, wurde in der Heimat weiter gemordet: Die Revolutionsgarde des Regimes soll das Feuer auf eine Versammlung von Menschen eröffnet haben.