Das "Team Melli", so wird das iranische Nationalteam genannt, blieb stumm. Bei der Nationalhymne vor ihrer ersten WM-Begegnung gegen England am Montag sang kein einziger Spieler mit. Die Geste, als Zeichen der Trauer über die vielen Opfer beim gewaltsamen Vorgehen der iranischen Behörden gegen die Protestwelle im Land gedacht, blieb dem iranischen Staats-TV nicht verborgen: Der Sender schaltete rasch auf eine Stadion-Totale, bei der die iranischen Spieler nicht mehr zu erkennen waren. Doch der Auftritt des "Team Melli", wie die iranische Mannschaft genannt wird, ärgert auch einige Gegner der Islamischen Republik: Das Schweigen wird als zu schwache Aktion kritisiert.


Beim ersten Spiel der Iraner schwappte der innenpolitische Konflikt in ihrem Land über den Persischen Golf nach Katar über. Einige Fans im Stadion in Doha schwenkten iranische Fahnen mit dem Löwenmotiv aus der Zeit vor der Machtübernahme der Mullahs in Teheran 1979 – die Fahne ist heute ein Erkennungszeichen der Opposition. Andere Zuschauer entrollten ein Transparent mit der Aufschrift "Frau – Leben – Freiheit" (großes Bild), dem Schlachtruf der iranischen Protestbewegung, die das theokratische System stürzen will.

Die Befürchtungen des Regimes

Genau solche Aktionen hatte die Regierung in Teheran befürchtet. Präsident Ebrahim Raisi befahl dem Außenministerium, es solle zusammen mit den Behörden in Katar "Probleme" während des Turniers verhindern. Iranische Oppositionsmedien meldeten, eine Frau habe wegen der Löwen-Fahne das Stadion verlassen müssen.
Helden sind die Spieler vom "Team Melli" aus Sicht einiger Iraner aber nicht. Iran International, ein Exil-Oppositionssender in London, berichtete von verärgerten Fans im nordwestiranischen Sandschan, die mit dem Schmähruf "Team Mullah" durch die Straßen zogen. Ihnen reichte weder das Schweigen bei der Nationalhymne noch die Stellungnahme von Kapitän Ehsan Hadschsafi am Tag vor der Begegnung. Hadschsafi hatte gesagt, die Zustände im Iran seien "nicht richtig", die Iraner seien "nicht glücklich". Dabei riskieren iranische Sportler, die sich nicht regime-konform verhalten, viel: Die Freikletterin Elnaz Rekabi, die im Oktober bei einem Wettbewerb in Südkorea ohne Kopftuch antrat, musste sich öffentlich entschuldigen – laut Berichten hatten Behörden gedroht, ihre Familie zu enteignen, falls sie sich weigern sollte. Nach der WM werden iranische Nationalspieler, die in Europa Geld verdienen, wohl um Sanktionen herumkommen. Profis aus iranischen Vereinen könnten gesperrt werden oder andere Strafen erhalten.

Weitere Aktionen sind geplant


Nun konzentriert sich die iranische Opposition auf den Rest der WM. Sie appelliert an die Zuschauer in Katar, sie sollten bei jeder WM-Begegnung in der 22. Spielminute den Namen von Mahsa Amini rufen, der jungen Frau, deren Tod in der Gewalt der iranischen Religionspolizei im September die Proteste auslöste. Die Sprechchöre könnten Amini "unsterblich" machen, schrieb die Regimekritikerin Masih Alinejad auf Twitter.


Die iranische Führung will der Opposition nicht die Initiative überlassen. Iran International berichtete, Katar habe seinen WM-Reportern offenbar auf iranischen Druck hin die Visa entzogen. Das Regime dürfte die Gruppen-Begegnung des Iran gegen die USA am 29. November als symbolischen Kampf gegen den "Großen Satan" präsentieren. Ob Raisi oder Minister seiner Regierung nach Katar reisen werden, ist nicht bekannt. Prominente Ex-Spieler im Iran haben sich klar auf die Seite der Opposition geschlagen. Ali Daei, der unter anderem bei Bayern München und Hertha BSC Berlin spielte und Kapitän der iranischen Nationalmannschaft war, erklärte auf Twitter, er wolle nicht nach Katar reisen, sondern im Iran bleiben und an die Todesopfer und ihre Familie denken. Auch Ali Karimi, der in seiner Karriere ebenfalls schon bei Bayern spielte, sagte ab. Javad Nekounam, ein weiterer Ex-Kapitän der Nationalmannschaft, schloss sich dem Boykott an.

Neue Eskalationen im Iran


Der WM-Auftakt fiel mit einer neuen Eskalation der Auseinandersetzungen im Iran zusammen. Regierungstreue Truppen rückten in Städten des iranischen Kurdengebietes ein, um militärisch gegen Demonstranten vorzugehen. Aktivisten und Lokalpolitiker berichteten, die Truppen hätten mit scharfer Munition auf Kundgebungsteilnehmer geschossen und mehrere Menschen getötet. Insgesamt sind seit Ausbruch der Proteste im September nach Schätzung von Menschenrechtlern über 400 Menschen ums Leben gekommen, mehr als 15.000 wurden festgenommen. Etlichen von ihnen droht die Todesstrafe: Laut Amnesty International sind fünf Demonstranten zum Tod durch den Strang verurteilt worden – und bald könnten 21 weitere Todesurteile fallen.


Inmitten der politischen Auseinandersetzungen versucht Nationaltrainer Carlos Queiroz, den Ball nicht aus den Augen zu verlieren. Jeder habe das Recht, seine Meinung zum Ausdruck zu bringen, sagte der portugiesische Trainer über mögliche Protestaktionen seiner Spieler. In anderen Ländern knieten Spieler aus Protest gegen Rassismus vor dem Spiel nieder. "Manche sind dafür, andere nicht. Genau so ist es im Iran."