Herr Neubauer, Sie haben über Jahre in Katar gelebt und dort im Sport gearbeitet. Was bedeutet „Sport“ im Emirat?
ANDREAS NEUBAUER: Sport ist der Regierung sehr wichtig. Man will, dass die Bevölkerung gesund lebt – und Sport ist neben Ernährung der wichtigste Baustein. Daher wurden Initiativen für Breitensport gestartet, es wurden auch Muster für 30 unterschiedliche Sportarten entwickelt – von „Aspire“, dem olympischen Komitee, den Fachverbänden. Mit dem Ziel, die gesamte Bevölkerung sozusagen ab der Geburt für einen Sport zu begeistern und sie aktiv zu halten, so lange es geht. Es ging sozusagen um einen „aktiven Lifestyle“.
Warum war das wichtig?
Weil Katar auf dem Weg zu einem der ungesündesten Länder der Welt war – die Fettleibigkeitsrate unter Jugendlichen ist explodiert. Da wurde angesetzt und mit der „Vision 2030“ alles auf Schiene gebracht. Darin geht es um die physische und psychische Gesundheit der Bevölkerung – nicht nur für Kataris, sondern für alle im Land.
Man spricht im Fall von Katar derzeit oft von „Sport Washing“, dem Versuch, sich mit dem Sport von anderen „Sünden“ freizukaufen. Sport ist aber mehr?
Das, was ich erlebt habe, war das Gegenteil von „Sport Washing“. Da wurden wirklich langfristige Konzepte entwickelt, die sehr in die Tiefe gingen. Es gibt nun sogar einen „National Sports Day“, viele Karrierewege, es gibt Sportfestivals mit großen Namen. Das Ziel war und ist es, den Sport in die DNA der Bevölkerung zu bekommen.
Was hat die „Aspire Academy“ damit zu tun?
Die Akademie ist die nationale Talentschmiede, in der die größten Talente im Alter zwischen zwölf und 18 Jahren zusammengefasst sind. Davor wird versucht, die Talente zu finden, die Arbeit von „Aspire“ beginnt schon bei den 6-, 7-, 8-Jährigen. Es gibt eigene Talentzentren, in denen alle Kinder systematisch erfasst werden, um die Entwicklung verfolgen zu können.
Alle Kinder?
Ja, alle Maßnahmen zielen auf den Breitensport ab. Wobei man sagen muss: Die Plätze an der Akademie sind dann Burschen vorbehalten. Die Mädchen, die bis zwölf mitgefördert werden, werden dann den Frauenverbänden übergeben. Da herrscht eine strikte Trennung in Katar, es ist eben ein islamisches Land. Die Frauen haben eigene Verbände, einige davon entwickeln sich aber auch sehr gut und haben schon Olympiasportlerinnen hervorgebracht.
Wie darf man sich die „Aspire Academy“ vorstellen?
Wie einen riesigen Sport-Campus, in dem die Akademie, „Aspire Logistics“, das alle Veranstaltungen ausrichtet, und „Aspetar“, das medizinische Zentrum, in dem etwa auch die Profis von Paris Saint-Germain durchgecheckt werden, untergebracht sind. Es gibt hier zwölf Fußballplätze, die größte Indoor-Sportanlage der Welt, in der bis zu 13 Sportarten parallel ausgeübt werden können und die bis zu 15.000 Leute Fassungsvermögen hat, dazu Schwimmhallen, zwei Shoppingmalls, Parks, Seen und das große Khalifa-Stadion, das auch bei der WM zu sehen sein wird. „Aspire“ dient da auch vielen Teams als Basis und Trainingsort. Es ist alles auf einem Fleck, dazu eine Schule samt Internat mit internationaler Zertifizierung – damit Schüler direkt an eine Universität in England oder den USA wechseln können. Diese Akademie ist ein Vorbild für viele andere, internationale Akademien.
Wie funktioniert die Akademie im Fußball?
Es ist die einzige Akademie im Land, die Spieler spielen bei ihren Klubs nur die Meisterschaft. Die Nachwuchs-Nationalteams bestehen meist zu 99 Prozent aus den entsprechenden Jahrgängen der „Aspire Academy“. Das ist auch ein Vorteil des katarischen Teams bei der WM – da spielen Spieler zusammen, seitdem sie 9, 10 Jahre alt sind. Und der Teamtrainer Felix Sanchez war seit 2006 in der Akademie, hat die U19 zum Titel in Myanmar geführt, dazu gibt es einige andere Erfolge – und 2019 hat das Team den Asien-Cup gewonnen. Im WM-Kader sind 18 von 26 Spielern aus der Akademie hervorgegangen. Das Konzept ist nachhaltig. Viele dachten ja, dass ein Mourinho oder Guardiola bei der WM auf der Bank sitzt – aber Sanchez ist seit 2017 Teamtrainer.
Was erhofft man sich vom Team bei der WM?
Man will ein konkurrenzfähiges Team, die Spieler wollen das Land stolz machen. Man wünscht sich ein Viertelfinale, aber alle wissen: Die Gruppe ist schwierig und als asiatische Spitzenmannschaft ist man nicht automatisch Weltklasse – das ist dann schon eine Liga höher. Aber man hat die Spieler schon im Nachwuchs immer gegen gute, extra eingeflogene Spitzenteams spielen lassen, wie Salzburg, Chelsea, Inter – damit sie die Angst vor großen Namen verlieren.