Die Fußball-WM in Katar hat auch in sportmedizinischer Hinsicht viel an Kritik ausgelöst. Erstmals wird eine Weltmeisterschaft im Spätherbst und Winter ausgespielt, weil die Temperaturen im Gastgeberland Mitte Juni bis Mitte Juli mörderisch gewesen wären. Das bedeutet gleichzeitig für die Spieler vieler teilnehmender Nationen eine enorme Zusatzbelastung. "Die Spieler pfeifen körperlich aus dem letzten Loch", sagte Austria Wiens Teamarzt, Markus Hofbauer.
Nun zählen österreichische Vereine wie die Austria oder der Stadtrivale Rapid Wien nicht zu den Hauptlieferanten an Spielern für die WM. Aber mit den verhältnismäßig kleinen Kadern wird auch hier die Belastung der Spieler schnell größer. "In jeder Sportart - das ist nicht nur fußballspezifisch - ist die Regeneration ein wesentlicher Faktor", erläuterte Hofbauers Rapid-Pendant Lukas Brandner.
Der Grund: "Ein Muskel schützt. Wenn ein Muskel aber müde ist, reagiert er zu langsam oder ist zu schwach", erklärte Brandner. Dadurch verliert er seine Schutzfunktion, die zum Beispiel für die Gelenke und den Bandapparat essenziell ist. Dadurch entstehen klassische Fußballverletzungen wie Kreuzbandrisse, Meniskusschäden und Verletzungen im Sprunggelenk.
Alarm von der Spielergewerkschaft
Nicht umsonst schlug die internationale Spielergewerkschaft FIFPRO in einem veröffentlichten Bericht Alarm, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtete. Spieler, die zur WM nach Katar fahren, hätten durch den dichten Spielplan ein erhöhtes Risiko für Verletzungen und Stress. Vor allem der Mangel an Regeneration wurde dabei genannt.
Beispielsweise nimmt die englische Premier League nur acht Tage nach dem Ende der WM am 18. Dezember am berühmten Boxing Day (26. Dezember) den Spielbetrieb wieder auf. 2018 und 2014 hatten die Spieler 26 bzw. 34 Tage Pause. "Nach einer dicht gedrängten ersten Hälfte der laufenden Saison wird die durchschnittliche Vorbereitungs- und Regenerationszeit für viele Spieler sieben oder acht Tage betragen, rund viermal weniger als sonst üblich", hieß es in dem Bericht. "Das steigert das Risiko für Muskelverletzungen und psychischen Stress. Signifikant verminderte Vorbereitungs- und Regenerationsphasen vor und nach der Weltmeisterschaft stellen eine Bedrohung für die Gesundheit der Spieler dar und behindern die Leistungsoptimierung."
Portugiesen die Nummer 1
In dem Bericht analysierte die FIFPRO auch die bisherige Belastung der Spieler zwischen Juli 2021 und Oktober 2022: Demnach haben Mitglieder des portugiesischen Nationalteams kumuliert die meisten Einsatzminuten aller 32 Teilnehmermannschaften zu verkraften. Auf den Plätzen folgen Brasilien und Mexiko.
Bei den Spielern bekam der niederländische Kapitän und Abwehrchef von Liverpool Virgil van Dijk in der genannten Zeitspanne die meisten Einsatzminuten zusammen, nämlich 7.597. Das sind, wenn man die Nachspielzeiten nicht mitrechnet, statistisch gesehen mehr als 84 Spiele. Auch Joao Cancelo, der portugiesische Außenverteidiger von Manchester City, Senegals Stürmerstar Sadio Mané (FC Liverpool bzw. Bayern), Deutschlands Innenverteidiger Antonio Rüdiger (Chelsea bzw. Real) und Englands Teamkapitän und Goalgetter Harry Kane (Tottenham Hotspur) kamen auf mehr als 7.200 Einsatzminuten, übertrafen somit die Grenze von 80 Spielen.
Zu der exorbitanten körperlichen Herausforderung vor, während und nach der WM kommt gerade für Teilnehmer aus Europa auch noch das Klima. Sie kommen aus dem Spätherbst und fast winterlichen Temperaturen nach Katar. "Dort hat es vermutlich eine ähnliche Witterung wie im mitteleuropäischen Sommer", sagte Hofbauer, was eine zusätzliche Belastung für den Organismus darstellt. Die Spieler, am vergangenen Wochenende großteils noch in ihren Ligen im Einsatz, haben kaum Anpassungszeit.
Hofbauer vermutete, dass es vermehrt Verletzungen ohne Kontakt mit den Gegnern kommen könnte. "Die WM ist kein Urlaub", betonte der Mediziner. Sein Rapid-Kollege Brandner stimmte ihm zu: "Sehr hohe Wettkampf- oder Trainingsbelastungen fordern körperlich und geistig deutlich mehr. Die Spieler kommen nie herunter." Die beiden Sportärzte waren sich einig darin, dass man dies vor allem bei den unteren Extremitäten sehen könnte: Zerrungen, Muskelfaserrisse, Bänder- und Meniskusverletzungen im Knie, Sprunggelenksverletzungen und die langwierig und mühsam zu behandelnden Verletzungen an Sehnenansätzen könnten sich häufen.
Weniger einig waren sich Brandner und Hofbauer bei allfälligen Auswirkungen auf den Fortgang der nationalen Wettbewerbe. Von einem Verein sind viele Spieler bei der WM eingesetzt, vom anderen weniger, und von manchen gar keine. "Es ist natürlich aus Clubsicht ein Traum, wenn ich mit der ganzen Mannschaft hochwertig und strukturiert körperliche, technische und taktische Fähigkeiten trainieren kann", sagte Brandner. Andere Trainer, die die halbe Mannschaft bei der WM haben - und das womöglich sehr lange - müssen sehr behutsam mit den Spielern und ihrer Regenerationsphase nach der Weltmeisterschaft umgehen. Der Rapid-Arzt nannte diese Aufgabe für die Trainer "anspruchsvoll".
Hofbauer glaubt hingegen, dass sich der körperliche Nachteil der WM-Teilnehmer gegenüber den Zuhausegebliebenen ausgleicht. "Es gibt ja einen Grund, warum die nicht zur WM gefahren sind", sagte Austrias Teamarzt. "Das Niveau ist gegenüber demjenigen der WM-Teilnehmer sicher ein niedrigeres. Das wird sich wahrscheinlich die Waage halten."