Es ist der ausschlaggebende Bestandteil des Fußballspiels, denn es befindet über Sieg oder Niederlage, das Toreschießen. Der österreichischen Nationalmannschaft ist justament in den drei letzten Partien vor der Europameisterschaft ein diesbezügliches Erfolgserlebnis versagt geblieben. Dies führt zwangsläufig zur Frage: Wer soll bzw. kann denn bei der Endrunde dem Team von Franco Foda zum Sieg verhelfen?
Es gab sie nicht im Überfluss, die dafür nötigen Chancen, aber sie hätten ausgereicht, um die letzten zwei Partien zu gewinnen, zumindest auf den ersten Blick. Denn ob der Ball tatsächlich im Tor landet, hängt von vielen Faktoren ab. Dazu gibt es seit geraumer Zeit das statistische Merkmal der laut Fachjargon "expected goals", also der zu erwartenden Treffer aufgrund einer bestimmten Situation. Errechnet wird die Wahrscheinlichkeit eines Torerfolgs (in Prozenten), basierend auf Tausenden von Daten aus der Vergangenheit. Demnach liegt zum Beispiel die Torwahrscheinlichkeit eines Elfmeters bei 77 Prozent.
Wären diese Fälle in den Tests gegen England und die Slowakei eingetreten, hätte Österreich in Middlesbrough zumindest ein Unentschieden erreicht. Die Sonntag-Partie gegen die Slowaken wäre allerdings verloren gegangen, was zunächst überraschend scheint.
Bei den Tormöglichkeiten ist jedoch ein wesentlicher Faktor zu berücksichtigen, nämlich die Qualität der Gelegenheit. Bei den sogenannten "expected goals" werden viele verschiedene Kriterien zur Berechnung herangezogen, wie etwa die Distanz, der Winkel, das Tempo des Schützen, die Anzahl der Gegenspieler zwischen Spieler und Torlinie sowie natürlich die Abdeckung durch den Torhüter. Letzteres hatte am Sonntag maßgeblichen Einfluss auf das Ergebnis von 0:0, denn sowohl Österreichs nunmehriger Euro-Schlussmann Daniel Bachmann als auch sein slowakischer Kollege, Newcastle-Goalie Martin Dubravka, hielten hervorragend.
Nicht zwingend genug
Als erste Anwärter auf einen Euro-Torerfolg gelten aus österreichischer Sicht Marko Arnautovic und Sasa Kalajdzic, doch Theorie und Praxis klaffen auseinander. Während der Rückkehrer sich innerhalb von nur 30 Minuten vier Möglichkeiten erspielte, kam der Zweimetermann in den beiden Partien zusammen auf keine einzige nennenswerte Gelegenheit. Dabei gehört der Stuttgart-Legionär in der deutschen Bundesliga zu den erfolgreichsten Schützen. Im Schnitt erzielt Kalajdzic alle 133 Minuten ein Tor.
Die Arnautovic-Chancen waren glänzend erarbeitet worden, mussten aber nicht zwingend den Weg ins Tor finden. Die Wahrscheinlichkeit war jedenfalls geringer als bei den drei Topmöglichkeiten der Slowaken. Vor allem beim vom eigenen Mann blockierten Schuss von Ondrej Duda hatte Österreich enormes Glück.
Dass Kalajdzic dennoch ein aussichtsreicher Kandidat ist, dafür sprechen seine bisherigen Treffer für Österreich in der WM-Qualifikation (3) sowie eine weitere statistische Feinheit. Der 23-Jährige wird in einer Rangliste der "unmöglichsten" Tore als Wiederholungstäter geführt. Bei zwei erfolgreichen Versuchen hatte die Wahrscheinlichkeit 5,1 bzw. gar nur 3,4 Prozent betragen. Das macht Mut.
Weitere Hoffnungsträger
Zum erweiterten Kreis der Hoffnungsträger gehören Marcel Sabitzer und Christoph Baumgartner, die allerdings wiederum gegen England gute, allerdings keine erstklassigen Möglichkeiten vergaben. Apropos Sabitzer: Hätte Leipzig ebenso wie der FC Bayern genau die nach der "Expected-goals"-Methode errechneten Treffer erzielt, wäre sein Klub bei Punktegleichheit aufgrund der besseren Tordifferenz deutscher Meister geworden. Die Bayern erzielten 27 Tore mehr, als es die Qualität der Chancen eigentlich zugelassen hätte. Hauptverantwortlich war natürlich Robert Lewandowski. Leipzig lag neun Tore hinter dem errechneten Wert.
Die Chancen von Baumgartner erreichten in den beiden Testspielen nicht das höchste Niveau, doch auch der Hoffenheim-Legionär ist (ebenso wie Xaver Schlager und Karim Onisiwo) für unerwartete Treffer gut, wie die Bilanz der abgelaufenen Saison der deutschen Bundesliga zeigt. Bleiben zwei Möglichkeiten, mit denen England bei Top-Konzentration der betreffenden ÖFB-Teamspieler bezwungen werden hätte können. Der neben das Tor gesetzte Kopfball von Michael Gregoritsch und die Riesenchance von Alessandro Schöpf in der Nachspielzeit stehen auf der Skala nach der "Expected-goals"-Statistik weit oben. In beiden Fällen war aus jeweils kurzer Distanz nur noch der Torhüter zu überwinden.