Wikipedia weiß: „Fußball ist eine Ballsportart, bei der zwei Mannschaften mit dem Ziel gegeneinander antreten, mehr Tore als der Gegner zu erzielen und so das Spiel zu gewinnen.“ Türkei zwei Tore, Österreich nur eines, Sieg Türkei. So einfach ist das. Oder auch nicht.
Selbstverständlich wird dieser wunderbare und manchmal brutale Sport durch zahlreiche subjektive und objektive Facetten angereichert, weswegen sich auch so leidenschaftlich darüber debattieren lässt. Doch im Prinzip hat es Teamchef Ralf Rangnick schon am Tag vor dem Achtelfinale gegen die Türkei auf das Wesentliche heruntergebrochen. In dieser Phase des Turniers hat jedes Spiel Playoff-Charakter, man darf sich keinen Aussetzer erlauben, nur das Ergebnis zählt. „Win or go home“, lautet die passende Parole im US-Sport. Österreich erlaubte sich ein ergebnistechnisches Blackout und fährt nach Hause. Viel früher als allseits erwartet.
Wenn die Tränen getrocknet sind, sollten viele positive Aspekte der EM-Mission 2024 stehen bleiben. Erkenntnisse, auf denen man aufbauen kann, wie man in solchen Momenten gerne sagt. Doch auch dieses Gefühl, als Favorit zu scheitern, muss stehen bleiben und den Antrieb dafür liefern, besser zu werden und so etwas nicht mehr so schnell erleben zu müssen. Wer weiß, wofür die Lehren aus diesem frustrierenden Erlebnis in Leipzig irgendwann gut sein werden.
Ganz nüchtern betrachtet, sind einige Mängel nicht zum ersten Mal aufgetreten. In dieser Turnierphase sind sie jedoch immer schwieriger zu kaschieren. Bleiben wir bei dem, worum es im Fußball geht: Die Chancen, um ein Tor mehr zu erzielen, waren natürlich da. Das Thema Effizienz ist zwischendurch immer wieder präsent. In die andere Richtung war es das siebente Spiel in Folge, in dem das Nationalteam zumindest ein Gegentor kassierte. Spielt man in einem Turnier nie zu null, kann dies auch mal schiefgehen.
„Wenn man in einem Spiel zwei Standardtore kriegt, ist es doppelt bitter“, spricht Philipp Lienhart ein Manko an, das so wirklich nicht vorkommen sollte. Das 0:1 war Slapstick pur. „Beim zweiten habe ich das Kopfballduell verloren“, nimmt Lienhart das 0:2 auf seine Kappe.
Die stets befleckten „Weißen Westen“ wurden vielleicht deshalb öffentlich zu wenig diskutiert, weil sie angesichts der Frühstart-Serie kaum ins Gewicht fielen. Diesmal blieb das eigene frühe Tor aus, dafür kassierte man eines. Einem Rückstand hinterherzulaufen, ist für das ÖFB-Team nicht so leicht. Zuletzt ging dies stets schief: im Herbst zu Hause gegen Belgien, bei der EM gegen Frankreich und die Türkei.
Nachdem das Nationalteam die Gelegenheiten, umgehend auszugleichen, liegen ließ, konnte man den türkischen Wirkungstreffer erkennen. „In der ersten Halbzeit hatten wir Momente, in denen wir nicht so ins Pressing gekommen sind und die Türkei zu oft rausspielen konnte“, analysiert Nicolas Seiwald. Nach der Pause agierte man dominanter. Zumindest der Ausgleich wäre verdient gewesen. Doch auch der aufopferungsvolle Kampf der Türkei um das Ergebnis wurde im ÖFB-Lager respektiert.
Es bleiben weitere Rückschlüsse, die nur bedingt unter die Kategorie Breaking News fallen. So oder so ähnlich hätten auch im Erfolgsfall die Hinweise in Sachen Verbesserungspotenzial ausfallen müssen. Sowohl Rangnicks Spielstil als auch das individuelle Potenzial im Kader verlangen, dass jeder Akteur seinem persönlichen Limit sehr nahe kommt. Ausnahmekönner von Weltklasseformat wie Jude Bellingham oder Harry Kane, die einen kollektiven Durchschnittstag im Alleingang retten, fehlen derzeit.
Das heißt natürlich nicht, dass Österreichs Elitespieler sich nicht auf ein beachtliches internationales Niveau entwickelt hätten. Derzeit ist auch die Altersstruktur eine gute. Aber einige Schlüsselspieler werden nicht jünger. Marcel Sabitzer und Michael Gregoritsch sind inzwischen 30. David Alaba wird bei seiner nächsten möglichen Turnier-Teilnahme 34 sein. Der 35-jährige Marko Arnautovic setzt hinter seine Nationalteam-Zukunft selbst ein Fragezeichen.
Die Pipeline an Talenten sollte sowieso nie versiegen. Sowohl in der Breite als auch in der Spitze ginge es besser, weil es im Fußball immer besser geht. Auf den positionellen Dauerbrennern im Tor und im Angriff wartet man inzwischen sehnsüchtig auf Nachschub. Das vorhandene Personal auf diesen Positionen macht es ordentlich, beispielsweise erst Alexander Schlager und nun Patrick Pentz im Tor. Aber dass vergleichbare Nationen bei internationalen Topklubs gefragte Goalies zur Verfügung haben, lässt sich nicht wegdiskutieren.
Wichtig wird sein, dass man Denkanstöße jeglicher Art nicht als Angriffe wertet, sondern als konstruktive Kritik. Auch ÖFB-intern soll es nach wie vor Verbesserungspotenzial geben. Hier ist auf den umsichtig agierenden Präsidenten Klaus Mitterdorfer zu hoffen. Wobei: Rangnick als Teamchef ist quasi eine Garantie für Lästigkeit im positiven Sinn. Es wird weiter beharrliche Arbeit benötigen, um dieses ungute Feeling in zukünftige Glücksgefühle zu verwandeln. Dieses Wissen, dass viel mehr drinnen gewesen wäre. „Das Ausscheiden ist schwer zu akzeptieren“, sagt Florian Grillitsch, „aber im Endeffekt werden wir nicht drumherum kommen.“