Am freien Donnerstag hat Florian Grillitsch seinen Aktionsradius in Berlin so gering wie möglich gehalten. „Mal ohne Wecker aufstehen, so lange wie möglich schlafen, dann Mittagessen, entspannt Café trinken, am Abend war ich draußen zum Essen“, beschreibt er seine Freizeit, wie man sie sich nach den Strapazen von drei Startelfeinsätzen in den ersten drei intensiven EM-Gruppenspielen vorstellt.
Am Freitag glich der Aktionsradius im Training wieder dem gewohnten Bild. Vor allem die Passübungen entsprachen der Domäne des Niederösterreichers, der bei diesem Turnier Xaver Schlager im defensiven Mittelfeld vertritt. Diskussionen, ob Grillitsch die richtige Wahl ist, gab es vor allen Partien, die mitunter von Höhen und Tiefen begleitet waren.
Was vor Turnierbeginn seine Antwort gewesen wäre, wenn ihm jemand verraten hätte, dass er gegen Frankreich, Polen und die Niederlande die Bundeshymne jeweils auf dem Platz hört? „,Davon gehe ich aus‘, hätte ich gesagt“, demonstriert der 28-Jährige Selbstbewusstsein, weiß aber natürlich selbst, dass er vom Fehlen Xaver Schlagers nach dessen Kreuzbandriss profitiert.
„Natürlich ist es schade, dass sich Xaver verletzt hat. Er ist einer unserer Schlüsselspieler. In den Testspielen vor der EM habe ich probiert, so gut wie möglich Gas zu geben, damit ich bei der EM spielen darf. Ich denke, dass ich es mir ein Stück weit verdient habe“, erklärt Grillitsch.
Den spielerisch veranlagten Mittelfeld-Strategen eins zu eins mit Schlager zu vergleichen, ist schwierig. Oder gar unfair? „Unfair nicht, aber wir sind zwei verschiedene Spielertypen. Ich würde sagen, Xaver ist eine Mischung aus Nici Seiwald und mir. Das Beste von beiden. Er ist zwei Spieler in einem, arbeitet top gegen den Ball, ist zweikampfstark und auch mit dem Ball sehr gut. Schade, dass er uns fehlt.“
Während Grillitsch gegen Polen nicht seinen besten Tag erwischt hat und zur Pause ausgetauscht wurde, präsentierte er sich gegen die Niederlande trotz des Ballverlusts beim Gegentor von seiner guten Seite. Diesen Fehler machte er umgehend mit dem Assist zum Kopfballtreffer von Romano Schmid wieder wett. „Diese Flanke war außergewöhnlich. Dann ist es auch leicht, das Tor zu machen. ‚Grillo‘ ist generell einer meiner Lieblingsspieler“, sagt Schmid über den 46-fachen Internationalen, der zahlreiche Fürsprecher in der Mannschaft hat. Vor Turnierbeginn erwähnte etwa Christoph Baumgartner in einer wahren Lobeshymne auf den Hoffenheim-Legionär dessen Fortschritte in der Arbeit gegen den Ball.
Bei der EM 2021 saß Grillitsch zu Beginn auf der Bank und entwickelte sich mit Fortdauer des Turniers zu einem Schlüsselspieler. Eine ähnliche Entwicklung erscheint abermals möglich, zumal die Erfahrung von damals vor dem Duell mit der Türkei Gold wert ist: „Dass einige von uns vor drei Jahren gegen Italien dabei waren und auch auf Vereinsebene schon in vielen K.o.-Spielen gestanden sind, macht es vielleicht ein bisschen einfacher.“
Grillitsch findet, dass diese „Alles-oder-Nichts-Spiele“ vom Druck her noch einmal eine andere Hausnummer seien. Dass Österreich die Türkei im März mit 6:1 deklassiert hat, dürfe man vor der Neuauflage zudem nicht überbewerten. „Damals ist vom Spielverlauf her alles in unsere Richtung gelaufen. Das wissen wir, davon werden wir uns nicht blenden lassen. Wir wollen so performen wie in den letzten Spielen und gegen die Türkei gewinnen.“
Der K.o.-Modus bringt auch die Möglichkeit einer Verlängerung inklusive Elfmeterschießen mit sich. Grillitsch berichtet, dass Teamchef Ralf Rangnick dies am Freitag bereits ins Training miteinfließen ließ: „Der Coach hat gesagt, dass ab sofort jedes Trainingstor mit einem Elfmeter bestätigt werden muss, sonst zählt es nicht.“ Das sei wahrscheinlich schon ein Vorgriff, wobei: „Trainieren kann man es sicher, aber die Drucksituation, falls es dazu kommen sollte, ist schwer nachzuspielen.“