Ralph Krueger steht während des Trainings auf der Tribüne, unterhält sich mit ÖFB-Mitarbeitern oder tauscht seine Gedanken mit David Alaba aus. Es ist ein hochrangiger Gast, den das Nationalteam am Donnerstag nach Berlin eingeladen hat. Der Deutsch-Kanadier veranstaltete am Abend einen rund einstündigen Motivationsworkshop mit den ÖFB-Kickern.
Österreichs Teamchef Ralf Rangnick blickt mit dieser Maßnahme über den Tellerrand des Fußballs hinaus. Krueger eroberte mit der VEU Feldkirch von 1994 bis 1998 fünfmal in Folge den Eishockey-Meistertitel, 1998 coachte er die Vorarlberger zum Triumph in der European Hockey League. Es folgten Engagements als Schweizer Teamchef sowie in der NHL in Edmonton und Buffalo. Im Fußball arbeitete er bei Southampton, aktuell steht der 64-Jährige dem Aufsichtsrat von Austria Wien vor. Warum Rangnick ihn in die Vorbereitung auf die Europameisterschaft integriert? Es geht um Kruegers Know-how in Sachen Turniererfahrung. „Für uns als Trainerstab ist es die erste EM“, weiß der Teamchef um dieses mögliche Defizit. Krueger indes habe als Spieler und Trainer an 13 Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen teilgenommen. „Viel mehr Erfahrung in einer Mannschaftssportart geht nicht“, verdeutlicht Rangnick.
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„Turniererfahrung“ war vor den Euros 2016 und 2021 noch ein oft gehörter Begriff. Vor acht Jahren ging es vor allem darum, ob das Nationalteam denn verbergen kann, dass kaum ein Kadermitglied aus eigener Erfahrung wusste, wie es auf der EM-Bühne zugeht. Rund um Sebastian Prödl und Martin Harnik stand nur noch eine Handvoll an Teilnehmern an der Heim-Euro 2008 im Aufgebot. Vor allem für die Superstars David Alaba und Marko Arnautovic war es eine bittere Erkenntnis, dass bei einem Großereignis auch Spielern das Herz in die Hose rutschen kann, die hochrangigen Vereinsfußball gewohnt sind.
2021 profitierte das ÖFB-Team durchaus vom Scheitern in Frankreich. Im besten Fall lernen Spieler, Betreuer und Verband von Turnier zu Turnier dazu und bauen ein Wissen auf, das an jene weitergegeben werden kann, die neu integriert werden. Dass sich Rangnick um die Thematik Turniererfahrung kümmert, ist gut. Denn in der Öffentlichkeit ist das Thema momentan vergleichsweise nur wenig präsent. Das kann auch ein positives Zeichen sein, weil in Sachen EM-Teilnahme ein Gewöhnungseffekt eingesetzt hat. Ignorieren sollte man diesen Faktor jedoch keinesfalls.
Für 17 von 26 Kadermitgliedern ist es das erste Antreten bei einem Turnier. Heinz Lindner (2016) und Stefan Posch (2021) waren schon dabei, kamen jedoch nicht zum Einsatz. „EM-Rekordspieler“ im aktuellen Kader ist Marcel Sabitzer. Der Steirer hat 2016 und 2017 alle sieben möglichen Partien absolviert. Marko Arnautovic hält bei sechs Einsätzen. Christoph Baumgartner, Konrad Laimer (beide je vier Einsätze), Florian Grillitsch, Michael Gregoritsch (beide je drei) und Philipp Lienhart (zwei) wissen seit 2021, wie sich EM-Minuten anfühlen.
Die Verletzungen von David Alaba, Xaver Schlager und Sasa Kalajdzic verhinderten die Nominierung weiterer Schlüsselspieler mit Turniererfahrung. Letzterer hätte auch das Feeling eines EM-Treffers beschreiben können. Von den diesjährigen EM-Fahrern können diesbezüglich Arnautovic, Gregoritsch und Baumgartner mitreden. Letzterer schoss Österreich 2021 gegen die Ukraine ins Achtelfinale. Für den Leipzig-Legionär ist dies auch heute noch das bislang wichtigste Tor seiner Laufbahn. „Gerade vom Emotionalen her war es brutal, weil ganz Österreich so glücklich war“, erinnert sich Baumgartner, „wir haben die Erfahrung schon gemacht und gezeigt, dass wir die Gruppenphase überstehen können.“ Intern wird auch das Bewusstsein weitergegeben, dass man in drei Spielen kaum die Chance hat, Fehler wiedergutzumachen: „Eine EM ist etwas ganz anderes als ein normales Spiel in der Bundesliga.“
2016 und 2021 erlebte Kleine-Zeitung-Experte Julian Baumgartlinger als Führungsspieler mit, wie es in beide Richtungen gehen kann. „Turniererfahrung ist nicht zu ersetzen, weil man sie nicht künstlich ersetzen kann“, weiß der 36-Jährige und hält es für wichtig, dass es für einige Spieler und Funktionäre bereits die dritte EM ist.
„Im Nationalteam ist es immer schwieriger“, unterstreicht Baumgartlinger. Man habe nicht viel Zeit, verschiedene Leute kommen zusammen: „Man weiß nicht, wie die Dynamiken innerhalb eines Teams sind. So lange zusammenzubleiben, kann man nicht simulieren. Das muss man erleben und einen Weg finden, damit ideal umzugehen.“ Und wenn man keine Erfahrung diesbezüglich hat, schadet es nicht, fremdes Wissen anzuzapfen. Wie es Rangnick nun bei Krueger tut.