Der entscheidende Teil der EM-Mission des Nationalteams hat begonnen. Die 26 Kadermitglieder des ÖFB-Aufgebots und der Betreuerstab trafen sich in Berlin nach einer dreitägigen Verschnaufpause. Wobei verschnaufen zumindest im klassischen physischen Wortsinn diesmal ein relativer Begriff ist.
Es ist womöglich kein Zufall, dass Teamchef Ralf Rangnick vordergründig mentale Aspekte hervorstrich, als er seine Spieler in die freien Tage entließ. Dinge für die Seele sollten seine Schützlinge machen. Etwas, das guttut. Nichts, was nervt oder stresst. Von einem Appell, sich dringlichst auszuruhen, war nichts zu hören.
Genau gesagt ist vom zu diesem Saison-Zeitpunkt üblichen Belastungsthema schon seit Beginn der EM-Vorbereitung am 29. Mai wenig bis gar nichts zu hören. Im Juni vor großen Turnieren ist der Hinweis auf die schon ach so lange Saison ein Klassiker. Diese Wehklagen hört man im ÖFB-Team derzeit nicht einmal in Nebensätzen. Physische Probleme konzentrieren sich eher auf verletzungsbedingte Wettläufe gegen die Zeit.
Alexander Prass als einziger ÖFB-Spieler mit mehr als 4000 Minuten
Populistisch formuliert hat das Ausbleiben dieser Jammerei vor allem mit dem Umstand zu tun, dass sich die meisten ÖFB-Kicker in dieser Saison schlichtweg nicht überarbeitet haben. Dies belegt auch der Vergleich mit Vertretern der Gruppen-Gegner Frankreich, Polen und Niederlande.
Dies ist nicht böse oder gar als Vorwurf gemeint. Letztlich hat es sich wohl einfach so ergeben. Ein gutes Beispiel ist der an Minuten am meisten belastete ÖFB-Kicker Alexander Prass, der als Double-Gewinner und Eurofighter mit dem SK Sturm eine denkbar intensive Vereins-Saison in den Beinen hat. Dafür fand er in Länderspielen eher sparsam Verwendung. Mit 4105 Einsatzminuten ist er dennoch der einzige rot-weiß-rote EM-Teilnehmer, der die 4000er-Marke knackt (siehe Grafik).
Baumgartner und Seiwald: In Leipzig weniger Minuten als erhofft
Neben Prass (51 Pflichtspiele) ist Konrad Laimer (53) der einzige ÖFB-Spieler, der auf 50 oder mehr Einsätze kommt. An Einsatzminuten bringt es der Bayern-Legionär auf vergleichsweise moderate 3412 Minuten. Stammkräfte wie Dauerläufer Nicolas Seiwald (2034 Minuten) und Christoph Baumgartner (1843) konnten in den jüngsten Tests sogar zusätzliche Spielpraxis gebrauchen, nachdem sie in Leipzig weniger Verwendung fanden als erhofft. Dabei stand Baumgartner für Verein und Nationalteam immerhin 49 Mal am Platz, im Klub jedoch oft nur als Joker. Mit Marcel Sabitzer brauchte zuletzt lediglich ein Österreicher eine Pause. Dies nach dem verlorenen Champions-League-Finale mit Dortmund jedoch hauptsächlich aus mentalen Gründen.
Für die EM-Ambitionen Österreichs könnte es sich als Vorteil erweisen, dass der Kader gerade im Vergleich mit der Konkurrenz nicht „überspielt“ ist. Gleich 13 Kadermitglieder von Auftakt-Gegner Frankreich haben in 50 oder mehr Pflichtspielen ihre Knochen hingehalten und dabei auch teils heftige Einsatzzeiten gesammelt. Megastar Kylian Mbappé ist mit 57 Matches und 4537 Minuten vorne mit dabei. Mit den 4932 Minuten (in ebenfalls 57 Spielen) von Arsenal-Innenverteidiger William Saliba kommt jedoch auch der zukünftige Real-Profi nicht mit. Theo Hernández (4804), Antoine Griezmann (4606) und Jules Koundé (4570) knacken ebenfalls die Marke von 4500 Minuten.
Bei Polen schießt Sebastian Szymański mit 65 Saison-Spielen den Vogel ab, dem Durchmarsch mit Fenerbahçe aus der zweiten Quali-Runde ins Viertelfinale der Conference League sei Dank. Für die Anzahl der Partien sind 4436 Minuten gar nicht mal so extrem. Superstar Robert Lewandowski ist auch mit 35 zwar noch nicht im Vorruhestand, wie 57 Matches und 4373 Minuten belegen, allerdings möglicherweise hoch belastet, wie sein Muskelfaserriss im letzten EM-Testspiel andeutet.
Während bei Polen mit Jakub Piotrowski lediglich ein weiterer Akteur die Grenzen von 50 Spielen und 4000 Minuten überquert, haben die niederländischen Betreuer in Sachen Belastungssteuerung mutmaßlich mehr zu tun. Neun Kicker der „Oranjes“ absolvierten 50 oder mehr Begegnungen, einige wie Liverpool-Star Virgil van Dijk (4.855 Minuten in 58 Spielen), Feyenoord-Profi Lutsharel Geertruida (4.660 in 53 Spielen) oder Milan-Legionär Tijjani Reijnders (4.498 im 59 Spielen) im sehr relevanten Minutenbereich.
Noch ein Vergleich: Beim ÖFB-Team übertrafen neben „4000er“ Prass lediglich neun weitere Akteure den auf diesem Niveau inklusive Länderspiele durchaus machbaren Wert von 3000 Minuten. Darunter mit Matthias Seidl, Leopold Querfeld, Niklas Hedl und Marco Grüll auch alle vier Vertreter von Cup-Final-Verlierer Rapid, der international schon im Spätsommer den Urlaub angetreten hat.