Ein Schweizer Journalist wollte von Österreichs Teamchef Ralf Rangnick nach dem 1:1 im Kräftemessen der beiden Nationalmannschaften wissen, wie erschreckend harmlos er die Offensive der Eidgenossen empfunden hätte. Dies zu beurteilen sei nicht seine Aufgabe, erwiderte der 65-Jährige: „Ich war außerdem zu sehr mit der schwachen Leistung meiner Mannschaft beschäftigt.“
Wenn beide Parteien nicht so richtig zufrieden sind, mag einiges nicht funktioniert haben wie erhofft. Gleichzeitig kann auch nicht alles schiefgegangen sein. Die ÖFB-Erkenntnisse nach Teil eins der EM-Vorbereitung:
Klare Ansagen: „Ein bisschen Pressing ist wie ein bisschen schwanger.“ Dieser Rangnick-Sager wäre nicht nur ein ausgezeichneter T-Shirt-Spruch, sondern bringt prägnant für jeden Menschen verständlich auf den Punkt, worauf es im ÖFB-Spiel ankommt und woran es in St. Gallen mangelte. Dass der Teamchef nicht zur Schönfärberei neigt, weiß man nach inzwischen zweijähriger Amtszeit als ÖFB-Chefcoach. Enttäuscht von der ersten Halbzeit im Kybunpark haute der Deutsche einige markige Sprüche raus, so sehr vermisste er die nötige Intensität und das richtige Energielevel.
„Für mich ist wichtig, dass wir unser Spiel spielen – und unser Spiel lebt davon, dass wir nicht einfach irgendwas spielen.“ Oder: „Wir sagen nicht umsonst, der erste Sprint muss sitzen, aber es gab in der ersten Halbzeit gar keinen ersten Sprint.“ Oder: „Ich bin angespannt, wenn ich uns so kicken sehe wie in der ersten Halbzeit. Das nervt mich kolossal.“ Rangnick fügte selbst hinzu, dass er dieses Auftreten als die Ausnahme von der Regel einstuft. Dass wie in der Vergangenheit, man denke an die Euro 2016, sich einschleichende Fehler nicht klar angesprochen werden, muss man bei Rangnick nicht befürchten. Sein deutlich formulierter Weckruf erinnerte an einen strengen Professor, der ausnahmsweise schlampigen Musterschülern vor der Reifeprüfung umso intensiver die Sinne schärfen möchte.
Frühstarts und Baumgartner-Überform: Gegen Serbien gelang „erst“ nach zehn Minuten das 1:0, dafür legte das ÖFB-Team umgehend das 2:0 nach. In den weiteren drei Testspielen des Kalenderjahres 2024 führte Österreich spätestens in der 5. Minute. Diese Frühstarts sind eng mit „Weltrekordler“ Christoph Baumgartner verbunden, der im fünften Länderspiel in Folge ein Tor erzielte. „Diese Serie darf er gerne ausbauen. Am liebsten soll er nach zehn Spielen zehn Tore haben“, gratulierte Michael Gregoritsch. Baumgartner fühlte sich nicht richtig fit und ließ sich daher zur Pause auswechseln. Bei der EM verspricht er wieder auf der Höhe zu sein. „Er zählt zu den Spielern, die wir unbedingt brauchen. Er ist ein Unterschiedspieler. Wenn man ihn bei uns sieht, kann man sich eigentlich kaum vorstellen, dass er in Leipzig kein Stammspieler ist“, meinte Rangnick.
Schwierige Phasen: Sowohl gegen Serbien als auch in der Schweiz gab es zu viele Momente, in denen Österreich nicht wie Österreich spielte und somit einen im Rückstand liegenden Kontrahenten zurück ins Spiel holte. Als positive Erkenntnis lässt sich mitnehmen, dass man gegen Serbien den Kampf annahm und den Vorsprung über die Zeit kämpfte. In der Schweiz fand man im zweiten Durchgang doch noch einen höheren Gang, Chancen ließ man kaum zu. „Es ist eine Qualität, wenn man auch mal schwierige Phasen überstehen kann“, fand Philipp Lienhart. Es ist angesichts der Qualität der Gruppengegner anzunehmen, dass man diese Qualität bei der EM abrufen wird müssen.
Unerwarteter Konkurrenzkampf: Jahrelang konnte man von einem Überangebot an geeigneten Innenverteidigern sprechen. Daraus wurde in den vergangenen Wochen eine Problemzone, weil hinter dem angeschlagenen Quartett Kevin Danso, Maximilian Wöber, Philipp Lienhart und Gernot Trauner plötzlich Fragezeichen auftauchten. Der aktuelle Status lautet wieder Qual der Wahl. „Wenn alle vier fit sind, haben wir ein Luxusproblem“, erklärte Rangnick erleichtert, nachdem Lienhart und Trauner in der Schweiz körperlich wie leistungstechnisch auf der Höhe wirkten und den Konkurrenzkampf anheizten. Laut Trauner werden in einem Turnier mehrere Kandidaten benötigt: „Wir haben drei Spiele mit wenigen Tagen Pause dazwischen. Ich denke nicht, dass jedes Mal dieselbe Elf auflaufen wird.“
Dünne Kaderdichte: Bei einem Großereignis braucht es definitiv mehr als die Stammelf. Es ist auch allen Kadermitgliedern zuzutrauen, dass sie helfen können. In einer perfekten Welt wäre der Konkurrenzkampf jedoch intensiver, als er sich abzeichnet. Klare Gewinner aus der zweite Reihe gibt es nach den jüngsten beiden Tests außer in der Innenverteidigung kaum. Einer ist sicherlich Sturm-Kicker Alexander Prass, der seine Tauglichkeit als Linksverteidiger nachgewiesen hat. Ein anderer ist Florian Grillitsch, den Rangnick als Startelf-Kandidat anstelle des verletzten Xaver Schlager bezeichnet. Der Teamchef erwähnte nach dem Schweiz-Match jedoch nicht nur einmal, dass nach den Ausfällen der beiden Schlagers, von David Alaba und Sasa Kalajdzic gerade im Stamm besser nichts mehr passieren sollte: „Wir brauchen möglichst alle Mann an Bord. Es fallen schon vier wichtige Spieler aus, da sollte keiner mehr dazukommen.“
Startelf zeichnet sich ab: Wer anstelle von Xaver Schlager in die Anfangsformation rutscht, ist weiter offen. Neben Grillitsch haben sich auch Romano Schmid und Patrick Wimmer angeboten. Einer der beiden dürfte zum Zug kommen, wenn Konrad Laimer als direkter Schlager-Erbe ins Zentrum rückt. Ansonsten reisen diese zehn Herren als Favoriten auf einen Platz in der Startelf nach Berlin: Patrick Pentz, Stefan Posch, Kevin Danso, Maximilian Wöber, Phillipp Mwene, Konrad Laimer, Nicolas Seiwald, Marcel Sabitzer, Christoph Baumgartner und Michael Gregoritsch.