Und plötzlich herrschte für wenige Augenblicke Stille. Eine quälende, unangenehme Stille. Als ob mit Kopfhörer aufgesetzt ein Wimmelbild betrachtet würde und nur das pulsierende Blut zu hören ist. Das Paradoxe daran: Nicht etwa an einem bewusst gewählten entschleunigenden Ort, sondern in einem Fußball-Stadion. Der gellende Pfiff erfuhr durch das Echo im Stadion noch mehr Autorität, und er löste die Verkrampfung.
Auf dem Spiel stand der Titel im ÖFB-Cup. Das erste Fußball-Spiel nach der Corona-Pause war also gleich ein entscheidendes. Und dieses Geisterspiel erregte weltweite Aufmerksamkeit. In 40 Länder wurde die Live-Bilder transportiert, USA, Australien, Türkei, sogar Syrien. Dennoch war erhöhtes Fußball-Fieber an diesem Abend in Klagenfurt nicht erwünscht. Jeder Zutritt zum Wörthersee-Stadion wurde zwar nicht auf Herz und Nieren überprüft, wohl aber penibel auf die Körpertemperatur.
36,6 Grad leuchteten auf dem Display auf und erteilten mir grünes Licht. In diesem Fall räumte es auch das große Privileg ein, bei diesem Spiel nach der Corona-Pause live dabei zu sein. Nicht einmal Spielerfrauen durften dabei sein. Schnell wird klar. Dieses Spiel ist anders als jedes bisher erlebte Sportereignis. Es wäre beispielsweise nicht notwendig gewesen unter dem Stadion den Presseparkplatz aufzusuchen, vor den Toren bot sich genügend Möglichkeiten das Auto abzustellen.
Punktgenau 200 gezählte Anwesende lautete die überschaubare Kulisse. Auch für ÖFB-Stadionsprecher Ronny Leber Neuland, der schon spärlich besetzte Tribünen, nie aber komplett leere unterhalten musste. Er erfüllte einen Job als dezente Abendbegleitung. Mit dem Spiel erhöht sich der Geräuschpegel auf dem satt-grün-leuchtenden Rasen. „Do-do-do“ oder „Heeeee“ waren das dominierende Vokabular und erinnert ein wenig an ein Youtube-Video, dass die vielen Interpretationsmöglichkeiten von „Oida“ erklärt. Als Kontrastprogramm schilderte der wortgewaltige ORF-Kommentator Oliver Polzer die Partie live aus der Reihe vor mir.
Vor dieser unwirklichen Kulisse leerer Plastiksessel wirkten die Salzburger erprobter, und natürlich aufgrund ihrer Qualität eingespielter. Austria Lustenau kämpft dagegen an. Besonders in der Anfangsphase zeigte sich auch deren Trainer Roman Mählich angespannt, wie ein Panther hechtete er in der Coaching-Zone umher und wollte helfen, die Null zu halten. „Joe, Joeeee, Joeeee, he Joeeee“, besonders der Lustenauer Thomas Mayer wurde bis zu seiner Auswechslung förmlich herumkommandiert. „Passt schon Joe“, beruhigte dazwischen wieder Torhüter Florian Eres. Fußball brutal ehrlich und in Reinkultur, wie früher als Kind.
Apropos ehrlich: Es war offensichtlich, dass die Spieler deutlich weniger mit Pfiffen von Schiedsrichter Muckenhammer haderten. Niemand spielte den „sterbenden Schwan“, keine Obszönitäten waren hören. Und als sich „Joe“ mit „Heee“ lautstark über einen Freistoß beschwert hatte, schien er selbst vom gewaltigen Echo erschrocken. Nicht nur er. Sekunden später führte Salzburg 1:0.
Geisterspiele gehen an den Spielern übrigens nicht spurlos vorüber, meint etwa Sportpsychologe Thomas Brandauer. „Fußballer sind Zuseher gewöhnt. Das bedeutet, visuelle Reize haben sich integriert, wenn sie das Spielfeld betreten. Bei Geisterspielen fällt das weg: Keine Bewegung auf den Rängen, keine Akustik.“ Vor allem Fußballer seien von dieser Umgebung abhängiger als andere Sportler. „Jeder Spieler nimmt es anders auf, wenn plötzlich Stille herrscht. Für manche ist es befreiend.“
Noch vor der Pause wurde es in den Trainerzonen ruhig. Salzburgs Jesse Marsch überließ nach dem 2:0 das Kommando seiner Mannschaft, Mählich blickte gefasst einer klaren 0:5-Niederlage ins Auge. Weder Puls noch Temperatur stiegen merklich an. Nicht auf dem Spielfeld, nicht unter den privilegierten Zaungästen. Daran zeigt sich wiederum, welche Kraft der zwölfte Mann imstande ist, einem Spiel zu verleihen. Obwohl das bei der Konstellation Salzburg gegen Lustenau in Klagenfurt ohnehin schwierig geworden wäre.