Kapitän Stefan Hierländers Aufruf um Eintrag in die Geschichtsbücher wurde eine Spur zu wörtlich genommen. Gemeint hat Hierländer die Vereinsgeschichtsbücher: Als erste Sturm-Mannschaft seit mehr als zwei Jahrzehnten international zu überwintern, das wäre aller Ehren wert gewesen. Geworden sind es aber nach dem 0:2 in Herning beim FC Midtjylland und dem zeitgleichen Feyenoord-Sieg gegen Lazio Rom gar die Europacup-Geschichtsbücher. Denn: Noch nie zuvor ist eine Mannschaft mit acht Punkten als Gruppenletzter ausgeschieden. Historisch, wie damals im Jahr 2002, als Sturm als erste Mannschaft der Europacup-Geschichte nach sechs Runden trotz negativen Torverhältnisses an der Spitze einer Champions-League-Gruppe gestanden war. Der Beigeschmack ist diesmal freilich ein anderer als damals – und er ist weit bitterer.
Die Trauer und der Ärger sind auch nach einer kurzen Nacht in Herning nicht überwunden. Zu groß war die Chance, sogar ins Achtelfinale der Europa League einzuziehen oder zumindest in der Conference League weiterzuspielen. Letztlich lag es an der 0:6-Schlappe bei Feyenoord Rotterdam (und auch an der mageren Torausbeute von nur vier erzielten Toren), dass es nicht einmal die Conference League wurde.
Rotterdam passt nicht ins Bild
Besonders bitter ist, dass die sechs Gegentore in Rotterdam überhaupt nicht ins Bild der bisherigen Saison passen. Denn mehr als zwei Gegentore (einmal Midtjylland, einmal Lazio, einmal WAC) hat Sturm in der laufenden Saison in keinem anderen Spiel kassiert. Relativ wenig erzielte Tore sind im Gegensatz dazu schon eher stimmig: Mehr als zwei Treffer in einem Spiel haben die Grazer auch erst dreimal in der laufenden Saison erzielt – sieht man von zwei deutlichen Siegen im ÖFB-Cup ab.
Einmal gelang das gegen Altach: Die Vorarlberger haben beim 4:0 in Graz Sturms Wut über die knapp verpasste Champions-League-Qualifikation zu spüren bekommen. Passend: Die Mannschaft von Weltmeister Miroslav Klose kommt auch dieses Mal "zum Handkuss". Am Sonntag geht es für Sturm nach einer internationalen Enttäuschung abermals gegen die Vorarlberger. Die Frage: Kommt Sturm als angeschlagener Boxer oder wütender Orkan in Vorarlberg an? "Es ist mein Job, dass ich die Jungs jetzt schnell wieder aufrichte und dafür sorge, dass der Fokus stimmt", sagt Trainer Christian Ilzer dazu trocken.
Bei aller Enttäuschung sind die Verantwortlichen dennoch zufrieden. Sowieso mit dem wirtschaftlichen Ergebnis, aber auch mit der sportlichen Entwicklung. Mit zwei Punkten (und kurioserweise dem fast identen Torverhältnis) sind die Grazer in der Vorsaison sang- und klanglos gegen Monaco, Real Sociedad und PSV Eindhoven ausgeschieden. "Wir wollten uns besser präsentieren als im Vorjahr und das ist uns auf eindrucksvolle Weise gelungen", sagt Ilzer. Nachsatz: "Wenn man Runde zwei ausklammert." Eben jenes Spiel, das Sturm mit 0:6 bei Feyenoord verloren hat.
Und doch ist der Unterschied zur Vorsaison nicht so groß: Gegen PSV Eindhoven haben die Grazer 1:4 verloren, alle anderen Spiele auf Augenhöhe gestaltet – nur eben damals knapp verloren oder "nur" unentschieden gespielt. "Da waren auch schon Partien dabei, wo wir uns gegen starke Gegner sehr gut präsentiert haben", erinnert sich der Cheftrainer. Der große Unterschied heuer war Sturms Erfahrung. "Der Respekt ist geschwunden, wir haben es uns zugetraut, unseren Fußball auf den Platz zu bringen gegen große Gegner. Dafür sind wir belohnt worden", erklärt Ilzer. Wenn auch nicht zu 100 Prozent – am letzten Spieltag waren es Kleinigkeiten, die für Midtjylland und gegen Sturm sprachen. Kleinigkeiten aber, die auf internationalem Niveau trotzdem den Unterschied ausmachen.
Lehrreich war die erste Saison in der Europa League – sonst hätten die Grazer nicht acht statt zwei Punkten erreicht. Lehrreich ist auch diese Europa-League-Saison gewesen. Und weil es die sportlich Verantwortlichen in der Vergangenheit sehr gut verstanden haben, die richtigen Lehren zu ziehen und der Mannschaft gewinnbringend weiterzugeben, besteht kein Zweifel: Diese Mannschaft wird in die Vereinsgeschichtsbücher eingehen. Nicht nur, weil sie die erste Mannschaft war, die mit acht Punkten aus einem internationalen Bewerb ausgeschieden ist.
Clemens Ticar aus Herning