Eine Telefonaudienz bei Ivan "Ivica" Osim ist besonders. War es immer. Heute ist der "Švabo" 74 Jahre alt, seine Stimme ist schwer, er wirkt müde. Aber über Fußball spricht Osim gern. "Ah", und ein langgezogenes "schön", raunt Osim, als er mit dem Gesprächsthema konfrontiert wird: Sturm Graz. Da wird die Frage nach seiner Gesundheit schnell abgewürgt. "Mir geht es gut, aber draußen liegt Schnee. Es ist kalt." Über sich selbst hat Osim noch nie gerne gesprochen.
Auch ein klassisches Frage-Antwort-Spiel liegt nicht im Sinn des Straußes, wie er wegen seines eleganten Spiels genannt wurde. Viele Fragen lässt Osim in einem langen Gespräch nicht zu und ergreift die Initiative: "Was ist los bei Sturm? Geht nix? Schießen sie keine Tore? Das ist das Schwierigste."
Nur vier Treffer in den vergangenen neun Spielen – für Sturm wurde die Essenz des Spiels längst zur Königsdisziplin. So weit wie heute waren die Grazer wohl noch nie weg, von jener Zeit, als Sturm Österreich dominierte. Wie etwa 1998, als die Grazer mit 19 Punkten Vorsprung auf Rapid Meister wurden und dabei doppelt so viele Tore erzielten wie die Wiener. "Für das schöne Spiel fehlt Sturm Risiko. Die Zuschauer wollen mehr. Nicht jeder kann wie Barcelona spielen, aber die Sturm-Fans wollen das gewisse Etwas. Wie damals. Wie Ivo. Wie Reinmayr. Jetzt ist alles anders, die Geschichte hat sich verändert."
Sturm und die Balkan-Quellen
Mit Fortdauer des Gesprächs empfiehlt Osim sein Rezept für mehr Ästhetik auf dem Liebenauer Grün. "Die Frage ist: Wie kann Sturm wieder wie früher spielen?", sinniert Osim. "Sturm war immer attraktiv mit Spielern aus dem Osten. Vastic, Kocijan. Echte Spieler, keine Spieler, die von Beratern protegiert werden. Was es braucht ist eine Basis mit guten, jungen Spielern. Dazu gute Ausländer – ohne sie wird es nicht gehen. Spieler vom Balkan. Sie leben nicht weit von Graz, viele sind talentiert. Da muss Sturm wieder suchen, eine neue Quelle finden. Diese Spieler sind aber nicht einfach zu bekommen. Die Situation in Jugoslawien hat wenig geholfen. Viele Spieler gehen früh hier weg."
Lässt es seine Gesundheit zu, kommt Osim heute noch ins Stadion Liebenau. Auch gegen die Wiener Austria wollte der Bosnier seinen SK Sturm beobachten. Doch wegen eines Todesfalls in seiner Familie reiste Osim vorzeitig nach Sarajevo ab, wo er als Berater für den bosnischen Fußballverband tätig ist. "Wenn ich nach Graz komme, spüre ich, dass sich die Leute für Sturm interessieren. Es ist noch immer Begeisterung da. Sturm ist nicht gestorben. Sturm hat noch immer einen Namen und Charisma in Europa", sagt Osim, ohne den Sturm über Österreichs Grenzen hinaus wohl nur wenige Fußball-Aficionados kennen würden. Drei Champions-League-Teilnahmen en suite, inklusive Gruppensieg im Jahr 2000. Erfolge, die kein heimischer Klub wiederholen konnte.
"Vielleicht braucht Sturm neue Leute"
"So viele Leute leben von Sturms Geschichte, von dem was Sturm geschafft hat", sagt Osim. "Aber vielleicht braucht Sturm neue Menschen, neue Leute, die mit Sturm nicht so viel erlebt haben. Die Mannschaft und die Führungsetage brauchen wohl eine Auffrischung. Sportlich und auf Führungsebene. Von Zeit zu Zeit muss man die Leute auswechseln. Vielleicht sind sie schon müde, der Druck ist ja groß. Die Verantwortlichen glauben, dass es ein Wunder braucht und sich der Erfolg nicht wiederholen kann. Aber man muss daran glauben, riskieren, Geduld haben. Sturm Graz ist ja nicht eine 'Hop-oder-Drop'-Angelegenheit. Sturm ist weit weg von 'Drop'. Sturm hat einen Namen, den kann der Verein nicht mehr verlieren", sagt Osim langsam.
Seine Stimme wird brüchiger, die Sätze länger. Aber Osim will über Sturm sprechen – als hätte er es schon länger nicht mehr getan. Seine acht Jahre als Trainer in Graz kann ihm keiner mehr nehmen, die funkelnden Medaillen für zwei Meisterschaften und drei Cupsiege auch nicht. Osim, der in seinen zwölf Jahren als Spielmacher bei Željezničar Sarajevo keine einzige gelbe Karte erhielt, ist eine Legende.
Sturm-Fans wünschen sich in Graz eine "Ivica-Osim-Straße", der Balkan liegt ihm zu Füßen. Rapids bosnischer Teamspieler Srdjan Grahovac erzählte einmal im Gespräch mit SPORTNET: "Osim ist unglaublich wichtig. Der bosnische Verband hatte vor zwei oder drei Jahren enorme Probleme. Die UEFA hatte uns gesperrt. Aber dann ist Ivica Osim gekommen. Ich weiß nicht was, aber irgendetwas hat er dann getan und seit diesem Zeitpunkt läuft alles super. Osim ist einfach eine Legende – überall im ehemaligen Jugoslawien."
Und selbst der hartgesottene Ilco Naumoski forderte einst: "Gebt Osim den Friedensnobelpreis." Seine Straße wird Osim irgendwann bekommen. Wenn nicht in Graz, dann in Sarajevo. Das würde auch der große Pele unterstützen. 1969 sollte in Sarajevo ein Freundschaftsspiel zwischen einer Stadtauswahl und Santos stattfinden. Osim war angeschlagen, also drohte Pele, nicht zu spielen: "Ich trete nur gegen die Besten an." Švabo wurde fitgespritzt. Das Match endete mit 1:1.
In Graz lebt der Fußball momentan von Legenden wie diesen – zu trist sieht die Gegenwart vorwiegend aus. "Die Stadt müsste wieder helfen, denn Sturm hat der Stadt auch sehr gute Dienste erwiesen", fordert Osim, der auch Positives erkennt: "Defensiv scheint die Mannschaft stabil. Und Zuschauer kommen auch noch. Mit der jetzigen Situation muss man vorerst leben. Jeder will gegen Sturm gewinnen, vielleicht können das die Spieler nicht ertragen." Dann ist seine Frau Asima, die sich liebevoll um Ivica kümmert, im Hintergrund zu hören. Sie will nicht, dass ihr Mann so lange telefoniert. Ivica fügt sich ihrem Wunsch, verabschiedet sich und sagt abschließend: "Ich hoffe, dass Sturm wieder zurückkommt."
Fabian Zerche