Jusuf Gazibegovic verfügt über das Talent, besondere Momente besonders emotional zu schildern. „Ich dachte, das Stadion bricht zusammen“, beschrieb Sturms Rechtsverteidiger die Gänsehaut-Minute nach dem 1:0 durch Mika Biereth, „jeder ist eskaliert, wir Spieler, die ganze Bank.“
Da die Grazer den Vorsprung gegen den FC Girona über die Runde brachten, war er endlich da, der erlösende erste Sieg in dieser Champions-League-Saison. Sturms erster Triumph in der Königsklasse seit 20. Februar 2001. Gazibegovic: „Es ist nicht selbstverständlich, mit Sturm Graz solche Momente erleben zu dürfen. Normalerweise hatte Salzburg solche Momente. Richtig geil, dass wir das jetzt haben.“
Der Weg der „nervösen“ Spieler
Sturm trat schon in Bundesliga und Cup in die Fußstapfen der „Bullen“. Auf emotionaler Ebene hat dieses Erfolgserlebnis gegen die Gäste aus Katalonien einen immensen Wert. Auch als krasser Underdog wäre es frustrierend gewesen, in der Champions League mit leeren Händen dazustehen. Noch dazu, da Sturm bei den bisherigen Auftritten ordentliche Leistungen brachte, sich kontinuierlich steigerte.
“Vor dem ersten Spiel gegen Brest konntest du viele junge, nervöse Spieler sehen, die ihr Champions-League-Debüt feiern“, blickte Biereth zurück und verdeutlichte damit, dass sich Sturm seither Schritt für Schritt entwickelt hat.
Für Interimstrainer Jürgen Säumel hat diese Entwicklung bereits mit der ersten Europa-League-Teilnahme 2021/22 begonnen: „Damals hat man viel Lehrgeld bezahlt. Im zweiten Jahr ist man in einer richtig starken Gruppe nur wegen der Tordifferenz nicht weitergekommen, im dritten Jahr hat man in Europa überwintert. In diesem Herbst war es ähnlich. Die ersten Spiele in der Champions League waren sehr wichtig für die Erfahrung. Natürlich kommt der Glaube dazu, dass man Spiele gewinnen kann, wenn man in Dortmund eine gute Leistung bringt.“
Auch der Glaube an Säumel wächst derzeit täglich. Viel mehr Werbung in eigener Sache, als das erste Bundesliga-Spiel mit 7:0 zu gewinnen und nun auch in Europas Eliteliga anzuschreiben, kann man bei den ersten beiden Gelegenheiten kaum betreiben. Präsident Christian Jauk brachte die Gefühlslage vieler Mitglieder der Sturm-Familie auf den Punkt, als er zugab, dass ihm Säumel als Chef langsam „unheimlich“ werde.
Zwischen Emotion und Rationalität
Dennoch bleibt es bei der Marschroute, die finale Trainerentscheidung nicht aus der Emotion heraus zu treffen. Sportchef Michael Parensen kündigte im Interview mit der Kleinen Zeitung an, rational vorzugehen. Eine Vorgehensweise, die auch dem Charakter Säumels entspricht, der mit seiner Leistung gute Argumente liefern möchte. „Jürgen ist einer, der am Boden bleibt“, unterstrich auch Jauk.
Aus Spielerkreisen war nach dem Sieg gegen Girona die Wertschätzung dafür zu hören, dass Säumel nicht viel verändert hat und weitestgehend den bekannten Prinzipien treu blieb. Lediglich mit kleineren Adaptionen habe er dem Team den Stempel aufgedrückt. Gegen Girona ließ Säumel seine Elf beispielsweise eine Spur kompakter agieren. „Das haben wir adaptiert. Ansonsten ist die Zeit jetzt einfach zu kurz, um etwas reinzubringen“, erklärte der 40-Jährige.
Das Beispiel Dortmund
Ob Säumel über die Winterpause hinaus Zeit bekommen wird, seine Ideen verstärkt zu implementieren, wird sich weisen. Sollte er den Verantwortlichen aktuell Kopfzerbrechen bereiten, wäre es ein positives. Wie kompliziert es mitunter werden kann, beliebte und erfolgreiche Übergangslösungen wieder zu entmachten, ist kein Geheimnis. So diente etwa bei Borussia Dortmund 2021 Edin Terzic als Platzhalter für Marco Rose. Für den früheren Salzburg-Coach wurde es schließlich von Tag eins an schwer, der beliebten Interimslösung nachzufolgen, die noch dazu den DFB-Pokal eroberte. Ein Jahr später übernahm wieder Terzic.