Ein schwarzes Ungetüm, tonnenschwer, bedrohlich. Und doch immer wieder gut behütet und sorgfältig auf Hochglanz gebracht. Es ist wohl eines der wuchtigsten Vereinsmaskottchen, die es in Europa gibt – eine uralte Dampflok, stationiert im ehrwürdigen Stadion von Zeljeznicar Sarajevo, dem „Eisenbahnerklub“ der Stadt, dem ersten Verein von Ivica Osim in Jugendjahren.

Der Weg zum Fußballplatz zählt nur zu einer von etlichen denkwürdigen Stationen mit einer gemeinsamen Ausgangslage: Drei Tage mit Ivan „Ivica“ Osim in seiner Heimatstadt, die ihm erste Sternstunden bescherte, aber auch ein Trauma, gegen das der geniale Taktierer bis heute kein Rezept, kein auch nur halbwegs brauchbares seelisches Gegensystem gefunden hat. In den Jahren der wahnwitzigen Belagerung Sarajevos arbeitete er als Trainer in Griechenlands Hauptstadt Athen. Seine Frau und seine Tochter entschlossen sich zu bleiben. Kein Überredungsversuch glückte, was Osim blieb, war ein nicht bewältigbares Schuldgefühl. Dass er unentwegt durch einen geheimen Tunnel Geld in die Stadt schleuste, will er nicht einmal als Tröstungsversuch akzeptieren. „Ich bin seither handicapiert“, lautet sein Standardsatz dazu.

Aber zurück zu erfreulicheren Dingen, zurück zum Fußballplatz, zurück zu einem der großen Helden und Idole der Stadt, der aber auch derlei Lob gar nicht mag. Ändern kann er an der enormen Zuneigung nichts. Der Platzwart stürmt, als er Osim erblickt, auf ihn zu, umarmt ihn minutenlang. Dann versucht er, mir in einem minutenlangen Redeschwall, untermauert mit angedeuteten Ausfallschritten und Dribblings, Osims Spielstil zu erläutern. Hier begann die Karriere des Hünen, der enorm fragil sein kann, hier erhielt er seinen Beinamen „Strauß“. Nicht in Anlehnung an den Riesenvogel, der seinen Kopf in den Sand steckt. Nein, er galt als Walzerkönig auf dem Rasen, der mit dem Ball eng am Fuß im Dreivierteltakt durch die gegnerischen Reihen tanzte.

Osim über europäische Politiker: "Ich würde alle austauschen"

Diese Tänze, sie kehrten auf andere Weise zu ihm zurück. So wollten wir beide bei einem unserer Treffen ungefähr eine Stunde lang durch die Altstadt flanieren; redend oder auch schweigend. Gute fünf Stunden wurden daraus. Nicht einmal annähernd zählbar waren die Umarmungen und Freudentänze, die allesamt dem heimgekehrten, großen Sohn der Stadt galten.

Worin besteht aber das Faszinosum dieser im europäischen Fußball bis zum heutigen Tag ziemlich einzigartigen Persönlichkeit? Sicherlich darin, dass Osim ein unsichtbares, magisches Dreieck in sich trug. Bestehend aus verblüffenden philosophischen Erkenntnissen, verbunden mit Weisheiten, die zu Lektionen für das Leben werden können. Drittens aber ist da die rare Gabe, mit einer unverwechselbaren Mischung aus schlagfertigem Humor und Sarkasmen immer wieder den Punkt zu treffen, von dem her die Erdkugel aus ihren oft grauenhaft knarrenden Angeln zu heben ist. So ist es wenig verwunderlich, dass auf die Frage, was er von den europäischen Politikern halte, postwendend die Antwort kam: „Ich würde alle austauschen. Sie begehen pausenlos taktische Fehler.“

Nicht bekannt ist, ob Osim die Erkenntnisse von Albert Camus geläufig waren, der sich ja in seiner Jugend als Torhüter versuchte und daraus einen Schlüsselsatz ableitete. Nicht nur der Ball, sondern auch allerlei andere Dinge kommen fast nie aus jener Richtung, aus der man sie erwartet.

Ivica Osim: "Lernen kann ich nur aus Niederlagen"

Ein universeller Geist, der stets auf das Unerwartete vorbereitet war und auch den Querpass in alle Richtungen beherrschte. Einer, mit dem man endlos lang über die Werke von Ivo Andric reden konnte, einer, der nicht sonderlich erstaunt war, wenn man ihn zum Samuel Beckett des Fußballs ernannt hatte, einer, der sagte, dass Glück vor allem darin besteht, über sich selbst lachen zu können.

Aber da blieb ja noch immer jener Mensch, der sagte, dass jeder Tag ohne Fußball ein verlorener Tag sei. Dies führte zu einem seltenen Glücksfall. Wer bekommt schon die Chance, gemeinsam mit dem genialen Analytiker daheim in seiner Wohnung die Live-Übertragung eines Champions-League-Spiels zu erleben. Bayern spielte im Viertelfinale gegen Kaiserslautern. Oft schien es, als sei Osim mit seinen Kommentaren und taktischen Kritiken der Partie um mindestens fünf Minuten voraus, bis hin zur Ankündigung des bald fallenden nächsten Tores. Das Spiel endete 4:0, aber mit Osim an der Seite war das schon nach zehn Minuten klar.

Auffallend war stets, dass Osim bei Siegen nur selten große Euphorie zeigte. Die Erklärung, ganz nach seiner Logik: „Wenn wir gewinnen, dann ist das schön. Für die Mannschaft und die Spieler. Lernen aber kann ich nur aus Niederlagen.“

Eine Geschichte wäre da noch zu erwähnen, aus einer Vielzahl berührender, auch skurriler Episoden. Bei einer Ehrung kam der damalige Sturm-Präsident, ein gewisser Herr K., aufgeregt zu Osim, der mir dezent seine Fluchtgedanken anvertraute. K. darauf: „Herr Journalist, helfen Sie mir, Sie kennen den Sturkopf ja gut!“ Grund seiner Klage: Er, Herr K., kaufe Spieler um Spieler, stets reagierte Osim lustlos: „Warum soll ich mich freuen? Es sind ja Ihre Spieler, Herr Präsident.“ Der aber ließ nicht locker, forderte wenigstens einen Namen. Osim blickte kurz herüber, kniff die Augen zusammen und sagte: „Thuram!“ Für Fußball-Laien: Er meinte den französischen Nationalspieler, damals einer der besten Verteidiger auf der Welt.

„Von dem, was war, lebt man nicht mehr.“ Das sagte Osim nach seiner schweren Krankheit. Einspruch, mehrfach: Die Erinnerung lebt, intensiv, wunderbar. Und jetzt: einen Walzer, für Herrn Strauß.