Fangen wir an mit der Frage, die alle beschäftigt: Hat Leipzig wirklich Chancen auf den Meistertitel?
RALPH HASENHÜTTL: Da geht es aber richtig los! Also, abgesehen davon, dass wir uns damit im Moment noch gar nicht beschäftigen, hat jede Mannschaft die Chance, Meister zu werden. Aber wir wissen auch, dass es in Deutschland nur eine einzige Mannschaft gibt, die den Anspruch hegt, Meister werden zu müssen. Und das müssten sie jedes Jahr werden – mit zehn Punkten Vorsprung.
Warum "müssen" die Bayern?
HASENHÜTTL: Weil sie die höchsten finanziellen Möglichkeiten haben, den besten Kader und ein bisschen eine eigene Liga darstellen.
Fragen wir anders: Gibt es wirklich keine Grenzen für Leipzig, wie Sie zuletzt sagten?
HASENHÜTTL: Sicherlich gibt es Grenzen, aber wir wissen nicht, wo die sind. Und wir haben auch nicht vor, uns Grenzen zu setzen. Wir schauen, wo unsere Limits sind – und im Moment wissen wir noch nicht, wo die sind.
So wie der Eisberg, den Sie zuletzt als Sprachbild nahmen?
HASENHÜTTL: Nein, der war eher auf den Gegner bezogen, auf die Schwere der Aufgabe. Da war mir klar, dass wir alles, aber auch wirklich alles, was wir haben und das bis jetzt unter der Wasseroberfläche war, zeigen mussten, um zu bestehen.
Der Eisberg ist eine starke Metapher, reden Sie mit Ihrer Mannschaft oft in solchen Bildern?
HASENHÜTTL: Ab und zu, ha. Das ist ja eher ein Ansatz, den Psychologen verwenden. Ich übernehme das ab und zu gerne, ohne zu viel Wert darauf zu legen. Klar ist aber: Wir haben da die Chance, an die Spieler Bilder zu senden, die sie besser interpretieren können.
Ob als Spieler oder als Trainer: Ihre Wege waren verschlungen. Haben Sie sich Ihre Laufbahn selbst so erträumt?
HASENHÜTTL: Ich habe mir nie träumen lassen, dass ich Bundesliga-Trainer werde. Wenige Spieler, die Trainer werden, schaffen es auch noch, in der Bundesliga aufzuschlagen. Darüber denkt man aber am Anfang ohnehin nicht nach. Ich bin kein Träumer.
Sondern?
HASENHÜTTL: Mir war wichtiger, dass ich als Trainer relativ schnell Entwicklungsschritte nehmen kann. So wie ich es als Spieler auch gemacht habe – machen musste. Weil ich halt nicht der Talentierteste war.
Was verstehen Sie unter "Entwicklungsschritten"?
HASENHÜTTL: Aus Fehlern zu lernen. Ich habe die dritte und zweite Liga durchlaufen, bevor ich in die Bundesliga kam. Das war gut, denn in den unteren Ligen kann man vielleicht den einen oder anderen Fehler machen. Daraus habe ich gelernt und mich entwickelt. Und: Ich habe mit allen Mannschaften immer das gespielt, was sie erfolgreich gemacht hat. Nicht etwas, was ich mir als Ziel vorgestellt habe. Das ist das Entscheidende.
Macht das den guten Trainer aus? Den eigenen Plan an der Mannschaft zu orientieren?
HASENHÜTTL: Ja. Ich weiß nicht, ob es der alleinig gültige ist, aber es ist meiner. Es gibt sicher Trainer, die ihr Ding zu 100 Prozent durchzuziehen versuchen – egal, was für Material zur Verfügung steht. Aus dem Vorhandenen das Optimum herausholen, das ist die Herausforderung.
Sie haben mit Ralf Rangnick einen sehr dominanten Chef und Vorgänger als Trainer. Wie sehr entspricht ihr Ideal vom Fußball dem von ihm?
HASENHÜTTL: Ideal ist, wenn man das Spiel gewinnt ... Im Ernst: Ich habe in den Gesprächen, bevor ich hierher kam, gemerkt, dass wir auf unglaublich vielen Ebenen gleich ticken und einen sehr, sehr ähnlichen Ansatz von Fußball haben. Erschreckend ähnlich fast.
Ihre Auffassung von Fußball in drei Sätzen?
HASENHÜTTL: Schwierig ... Zentrum des Handelns ist die Arbeit gegen den Ball – immer. Trotzdem musst du auch Lösungen mit Ball haben. Du musst eine Mannschaft mit Mentalität entstehen lassen. Wenn du diese drei Punkte schaffst, bist du sehr weit.
Und doch dachten viele, die Zusammenarbeit mit Rangnick geht nicht, die Emanzipation von ihm ist nicht möglich. Warum geht es doch?
HASENHÜTTL: Viele konnten sich nicht vorstellen, dass es neben dem Alphamännchen Rangnick noch ein zweites Alphamännchen geben kann. Wer das glaubt von außen, der unterschützt uns. Wir sehen uns beide als Dienstleister für die Mannschaft. Mit diesem Ansatz fällt es leichter, Eitelkeiten zurückzustellen. Es geht nur darum, die Mannschaft besser zu machen.
Neider sagen, die Möglichkeiten bei Red Bull sind unbegrenzt, das ist ja leicht hier. Stimmt das?
HASENHÜTTL: Keiner hat unbegrenzte Möglichkeiten! Wir legen uns nur intern eine Philosophie zugrunde, die auf Nachhaltigkeit beruht. Wir haben keinen Spieler verpflichtet, der älter als 24 Jahre ist, machen keine verrückten Sachen. Das ist die Grenze, die wir uns selbst auferlegen.
Ihre Mannschaft wird zurzeit für ihre Laufbereitschaft und die Taktik gelobt. Was ist wichtiger?
HASENHÜTTL: Die Spielphilosophie und das System stehen bei Leipzig über allem. Dann wird mit Spielern bestückt, die imstande sind, das Geforderte zu leisten.
Da war aber noch die Meinung, dass Taktik überschätzt wird...
HASENHÜTTL: Vielleicht, wenn man eine Mannschaft mit elf Weltstars hat, dann geht’s ohne. Aber ich weiß nicht, ob selbst das heute noch funktioniert.
Im Moment ist es so, dass die Mehrzahl der Mannschaften gegen den Ball steht, als selbst zu spielen, oder?
HASENHÜTTL: Es hilft dramatisch, um ein Spiel lange offen zu halten und damit eröffnet es die Chance, das Spiel vielleicht zu gewinnen, wenn es lange 0:0 steht. Und das muss immer der erste Ansatz sein. Aber du kannst ja nicht nur gegen den Ball arbeiten und wenn du ihn hast, weißt du nicht, was du damit machen sollst. Wir hatten in dem Jahr auch schon Spiele, wo wir gegen einen sehr tief stehenden Gegner Lösungen finden mussten. Das ist ja auch spannend, sich auf das Spiel einzulassen.
Vielleicht sogar spannender als das Spiel gegen den Ball?
HASENHÜTTL: Ja, weil es noch einen Tick schwerer ist, einen tief stehenden Gegner wirklich vor Probleme zu stellen, Lösungen zu finden, in engsten Räumen.
Ist der Mittelstürmer gegen tief stehende Gegner wieder wichtiger geworden?
HASENHÜTTL: Nein. Ich glaube nicht, dass Mannschaften, die sich auf einen Mittelstürmer konzentrieren, schwer auszurechnen sind. Der kann natürlich brutale Qualitäten haben. Aber ich habe in meinen Mannschaften immer darauf geachtet, dass ich viele Spieler mit Torgefahr hatte.
Soll jetzt die logische Anschlussfrage für Österreicher folgen?
HASENHÜTTL: Wegen was?
Na ja, wegen dem Nationalteam und Marc Janko…
HASENHÜTTL: Ach, weil ich mich dazu schon einmal geäußert habe. Mir war die Tragkraft der Worte damals nicht so klar. Abe es ist unsere Pflicht als Trainer, immer wieder Lösungen zu finden. Und Marcel Koller versucht das ja. Aber dass das schwer ist, speziell gegen tief stehende Gegner, hat man gesehen. Du brauchst hohes Passtempo, hohe Passqualität, du brauchst guten Tiefgang, das Netzwerk muss perfekt funktionieren, die Automatismen müssen perfekt da sein. Dass das als Teamchef schwierig ist, ist mir schon klar. Das ist eine sauschwere Aufgabe. In einer Woche, wo ich die Jungs zusammen habe, alles peu a peu zu formieren, das stelle ich mir sehr herausfordernd vor.
Sie sollen gesagt haben, jetzt "für alles" einen Plan zu haben. Stimmt das Zitat?
HASENHÜTTL: Ich habe gesagt, dass ich in der Zeit, seit ich hier bin, viel gelernt habe. Ich habe die Art, wie wir spielen, und die ist doch anders als in Ingolstadt, verinnerlicht. Ich habe gelernt und habe für Situationen Lösungen gefunden, die ich vorher nicht hatte.
Aber nicht auf alle?
HASENHÜTTL: Ich hatte vor Leipzig Antworten auf viele Fragen, aber ich hatte auch auf viele Fragen keine Antworten. Jetzt habe ich auf wesentlich mehr Fragen Antworten gefunden. Nicht auf alle, weil wir nie glauben sollten, alles über Fußball zu wissen. Der Fußball verändert sich ständig, du musst dich selbst laufend entwickeln, sonst wirst du überholt. So habe ich das gesagt.
Reden wir über Leipzig. Was macht den Standort so besonders?
HASENHÜTTL: Abgesehen davon, dass Leipzig eine der Wiegen des deutschen Fußballs ist, hier wurde der DFB gegründet, hat es auch eine große Fußballtradition mit dem Zentralstadion. Das hat schon viele geschichtsträchtige Spiele erlebt und Gott sei Dank darf es jetzt wieder welche erleben. Leipzig ist ein Standort, der sehr viel Fußballeuphorie hat. Wir sind in der glücklichen Lage, diese Euphorie wieder wecken zu dürfen. Wir dürfen einer neuen Generation wieder Spitzenfußball präsentieren, wir sind zu dem Verein der Region geworden. Die Stadt darf sich mit uns identifizieren, wir identifizieren uns mit der Stadt.
In Leipzig geht es rund, es gibt viel Lob und Euphorie.
HASENHÜTTL: Die lässt sich nicht leugnen. Ich hatte lange Zeit Probleme, mit Lob umzugehen, mittlerweise geht’s. Mit Kritik konnte ich viel besser umgehen. Das war schon als Fußballer so, damals habe ich mehr Kritik als Lob bekommen. Aber das hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Ich habe mir die Kritik zu Herzen genommen, sie war Antrieb, besser zu werden.
Kritik kommt ja auch jetzt genug. Red Bull, der Dosenklub, die Kolonialisierung des Fußballs, der Retortenklub. Und jetzt auch noch Tabellenführer ...
HASENHÜTTL: Ich kann nur zu der Zeit etwas sagen, seit ich hier bin. Anfeindungen gab es sicher, aber nicht seit Sommer.
Ach so? Bei jedem zweiten Auswärtsspiel?
HASENHÜTTL: Nein! In Köln gab es einen Sitzstreik. Und in Leverkusen die Geschichte mit dem Farbwurf.
Das stimmt ja so nicht. Es gibt laufend Proteste, Berührungsängste, Klubs haben Red-Bull-Verkaufsverbot in den Stadien ...
HASENHÜTTL: Also, ich kann mich erinnern, wie ich mit Ingolstadt aufgestiegen bin, wie groß der Aufschrei war: Na, wer kommt denn da daher? Ein Werksklub ... Alles, was neu und erfolgreich ist, wird kritisch betrachtet. Und das, was in die Phalanx der großen Klubs eindringt, sowieso.
Aber RB Leipzig ist sogar Feindbild ...
HASENHÜTTL: Das braucht man vielleicht zu Beginn. Aber ehrlich: Ich will RB Leipzig nicht mit anderen vergleichen. Weil wir einzigartig sind. Und ich glaube, dass die Menschen langsam merken, dass wir eine Bereicherung sind. Nicht nur fußballerisch.
Und doch sagt man: Red Bull mag cool sein, aber auch kühl, ein Klub ohne Tradition und emotionale Bindung.
HASENHÜTTL: Wer einmal bei uns im Stadion ein Heimspiel gesehen hat, wird das sofort revidieren. Es gibt kaum eine leidenschaftlichere Mannschaft, als wir es sind. Der emotionslose Ansatz ist schon lange nicht haltbar.
Und wenn Ihre Mannschaft einfach nur einen Lauf hat?
HASENHÜTTL: Es ist schon möglich, dass es so was gibt. Wer unsere Leistung aber nur auf einen Lauf reduziert, der tut dem Lauf unrecht. Ich nehme meine Mannschaft ja nicht nach dem Spiel, stecke sie in eine Vitrine, lass sie vor dem nächsten Spiel wieder auf den Platz und sie spielt so weiter wie davor. So funktioniert das ja leider nicht. Es ist einfach brutal viel harte Arbeit. Dass es so leicht aussieht, ist ja genau das, was Perfektionismus ausmacht.
Worum geht es dann, wenn es kein Lauf ist?
HASENHÜTTL: Fußball, das sind Menschen, die machen mal was richtig und mal was falsch. Und wenn du ihnen das Falsche mitgibst, dann machen sie erst recht was falsch .Es ist einfach brutal viel harte Arbeit. Dass es so leicht aussieht, ist ja genau das, was Perfektionismus ausmacht. Ich will nicht sagen, dass wir auf der Suche nach dem perfekten Spiel sind, aber…
Aber?
HASENHÜTTL: Fußball ist ein Fehlerspiel. Die zehn misslungenen Aktionen werden geadelt von der einen, die zum Erfolg und zum Tor führt. So ist Fußball. Deswegen muss man immer bereit sein, Fehler zu akzeptieren. Und das tue ich, wenn ich sehe, dass diese Mannschaft alles gibt, leidenschaftlich ist.
Was fehlt Ihnen denn zur Meisterklasse? Zu Barcelona, zu Real? In verständlichen Sätzen?
HASENHÜTTL: Die haben bessere Spieler und schauen in Regale, wo kein deutscher Verein mitschauen kann, außer Bayern. Aber es ist nicht unser Ansatz, uns an diesen Vereinen zu orientieren.
Woran denn dann?
HASENHÜTTL: An unserem Spielstil. Wir wollten schauen, wie weit es mit dieser Mannschaft geht. Jetzt sind wir Meisterkandidat. Für manche wäre es jetzt schon eine Enttäuschung, wenn wir nur in der Europa League spielen sollten. Das ist natürlich Schwachsinn hoch zehn! Wir wollen eine sorgenfreie Saison spielen. Und die dürfte es werden.
Ist das jetzt Tiefstapeln?
HASENHÜTTL: Nein! Wir haben eine junge Truppe, da bist du nicht davor gefeit, dass enge Spiele einmal auf die andere Seite kippen. Dann hast du schnell zwei, drei Spiele verloren. Und wer weiß, wo du dann aufschlägst.
Sind Sie gespannt, was nach der ersten Niederlage in Ihrer Mannschaft passiert?
HASENHÜTTL: Ich habe vor der Saison den Satz geprägt: Wir werden kein einziges Spiel verlieren! Entweder wir gewinnen oder wir lernen! Das ist nach wie vor zutreffend. Wir haben ja bisher auch ohne Niederlagen aus Fehlern gelernt. Wir haben Chancen zugelassen, Tore kassiert. Deswegen ist das, wie wir es im Moment handhaben, nicht schlecht: lernen, ohne zu verlieren.
Abschlussfrage: Wie sehr darf man als Trainer in der deutschen Bundesliga Österreicher sein?
HASENHÜTTL: Voller Stolz darf man das! Mir liegt meine Heimat nach wie vor sehr am Herzen, ich freue mich riesig, dass es meine Landsleute stolz macht, dass wir so erfolgreich agieren.